Loveparade-Prozess ohne Urteil eingestellt
4. Mai 2020"Ich bin enttäuscht und auch wütend", seufzt Gabi Müller. Die Mutter, die ihren 25-jährigen Sohn bei der Massenpanik 2010 verlor, war an vielen der rund 180 Verhandlungstage persönlich dabei. Schon als sich eine Einstellung des Verfahrens abgezeichnet hatte, sagte sie: "Ich habe den Glauben an den Rechtsstaat und an die Politik verloren." Ihr sei es wie vielen anderen Nebenklägern nie um Rache an den Schuldigen gegangen, sondern immer nur um Aufklärung, sagt sie im Gespräch mit der DW.
"Ich wollte nur eine Antwort haben, wie es zu dem Unglück kommen konnte." Darum habe sich der Richter bei der Vernehmung der Zeugen auch sehr bemüht, nimmt Müller den Vorsitzenden der sechsten großen Strafkammer des Landgerichts Duisburg ein wenig in Schutz. "Aber wie soll der Richter bei so vielen Beteiligten für einzelne Personen eine konkrete Schuld feststellen?"
Gabi Müller glaubt, dass dieses Unterfangen von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen sei. Die Vorsichtsmaßnahmen zur Corona-Pandemie als Mitbegründung für die Einstellung des Verfahrens empfindet sie als bequemen Vorwand, um nicht zu einer Entscheidung kommen zu müssen. Nun hat das Duisburger Landgericht das Verfahren endgültig eingestellt.
Prozessergebnis wie ein zweiter Tod
Etliche Nebenkläger bemängeln, dass der Prozess nach siebenjährigen Ermittlungsarbeiten durch Polizei und Staatsanwaltschaft im Dezember 2017 viel zu spät begonnen habe. Im Prozessverlauf habe es dann einen Wettlauf mit der Zeit gegeben, der kaum habe gewonnen werden können. Zudem hätten Verantwortliche bei der Polizei nie vor Gericht gestanden, obwohl es viele Fehler bei der Sicherung des Geländes gegeben habe.
Paco Zapater trauert sehr um seine Tochter, die 22-jährig bei der Loveparade in den Massen erdrückt wurde. Jetzt ohne Urteil dazustehen stehe nicht für einen fairen Prozess, erklärt er. Zapater ist selbst Jurist und erwägt, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu klagen. Vielleicht benötige Deutschland "eine grundsätzliche Reform seiner Justiz", meint Zapater. Den Ausgang des Prozesses empfindet auch Gabi Müller als "Schlag ins Gesicht". Das sei "immer wieder auch ein Tod von unserem Sohn", sagt die Mutter der DW. Dennoch sei der Prozess wichtig gewesen. Sonst hätte überhaupt keine Aufarbeitung der Umstände stattgefunden. Jetzt hoffen die Angehörigen der Toten und viele der Verletzten, dass der Prozess ein Nachspiel in der Politik findet.
Anklage "erkennbar aussichtslos"
Die Auswahl der Angeklagten bleibt bis heute umstritten. Vor Gericht standen schließlich nur zehn Angeklagte, sechs Beschäftigte der Stadt Duisburg und vier Angestellte der Veranstaltungsfirma Lopavent. Ihre Verteidiger hatten von Anfang an die Rechtmäßigkeit des Prozesses angezweifelt. Schon zu Beginn hatten sie auch die Meinung vertreten, der Prozess finde vor der falschen Strafkammer statt. Denn schon die fünfte Strafkammer des Duisburger Landgerichts hatte bereits im März 2016 die Anklage als "erkennbar aussichtslos" eingestuft.
Später meinten mehrere Vertreter der Angeklagten, die Schuldzuweisungen seien trotz zahlreicher Zeugenaussagen und Videos schwierig. Im Frühjahr 2019 wurde das Verfahren gegen die Bediensteten der Stadt Duisburg und einen Lopavent-Mitarbeiter ohne Auflagen eingestellt. Die drei verbliebenen Lopavent-Mitarbeiter lehnten eine Einstellung ihres Verfahrens ab, weil sie noch auf einen Freispruch hofften. Eine geforderte Geldauflage von 10.000 Euro lehnten sie ab. Als sich abzeichnete, dass eine wenn auch nur geringe Schuld eventuell doch noch nachweisbar wäre, nahmen die Angeklagten den im April 2020 vom Landgericht Duisburg gemachten Vorschlag zur Einstellung des Verfahrens an, nachdem auch die Staatsanwaltschaft der Einstellung zugestimmt hatte.
"Das Gericht hat sich die Entscheidung nicht leichtgemacht", erklärt Gerichtssprecher Thomas Sevenheck dazu. Aber man müsse bedenken, dass am 27. Juli die absolute Verjährung der Ansprüche gegen die Angeklagten drohe und bis dahin die noch beabsichtigten Anhörungen von Zeugen und einem Gutachter kaum zu schaffen seien, erst recht nicht unter den jetzigen Sicherheitsauflagen wegen der Corona-Pandemie. Die Fortsetzung des Prozesses stehe in keinem Verhältnis zur Gesundheitsgefährdung, weiteren psychischen Belastungen der Verfahrensbeteiligten und zu neuen Erkenntnissen, die nichts daran ändern würden, dass sich eventuelle Strafen im unteren Bereich des Strafrahmens bewegen würden.
Hoffnung auf ein politisches Nachspiel
Auf eine Debatte im nordrhein-westfälischen Landtag über die Konsequenzen aus dem Prozess und auf eine Auseinandersetzung mit einem wichtigen Sachverständigen-Gutachten wegen der Rolle der Polizei hofft Julius Reiter von der Kanzlei Baum Reiter & Collegen. Er vertrat zwölf Nebenkläger und sagt zum Ende des Verfahrens: "Wir bedauern, dass der Loveparade-Prozess ohne ein Urteil endet." Die Geschädigten seien maßlos enttäuscht.
Daniel Sieveke (CDU) ist Vorsitzender des Innenausschusses im Landtag von Nordrhein-Westfalen. Er sagt im Gespräch mit der DW: "Ich gehe davon aus, dass weiter diskutiert wird, mit dem Ausblick, wie geht es jetzt weiter?" Man sei auch mit den kommunalen Spitzenverbänden im Gespräch, den bereits 2017 von der Vorgängerregierung (SPD und Grüne) geschaffenen Orientierungsrahmen für Veranstaltungen weiterzuentwickeln. Darin gibt es etwa Vorgaben zu Absperrungen, Zugängen und Begrenzungen der Teilnehmerzahlen für bestimmte Veranstaltungsorte. "Wir sind da dran." Wenn die Corona-Pandemie keine weiteren Verzögerungen bereite, wolle man Ende des Jahres Ergebnisse vorlegen.
Der Prozess auf der Bühne
Das sechsköpfige Ensemble des Schlosstheaters Moers wollte nicht, dass die gesamten Ereignisse einfach so untergehen. "Wir wollten einen bleibenden Diskurs stiften", so Dramaturgin Larissa Bischoff. Unter der Regie von Ulrich Greb werden nach der Corona-Pause die engagierten Schauspiele in dem Stück "Parade 24/7" in die Rolle der Zeugen der Katastrophe schlüpfen. Sie spielen dann zum Beispiel Politiker, Beschäftigte des Bauordnungsamts, Helfer oder Gerichtsmediziner mit Originalaussagen. "Wir haben mit vielen Zeugen gesprochen und verwenden nur Originalzitate", sagt Larissa Bischoff. Einige Beispiele, die das Publikum aufrütteln sollen:
"Das Gelände war nicht unser Thema." - "Wie Vereinzelungsanlagen auszusehen haben, steht nicht im Gesetz." - "Eine Bevorzugung der Mobilfunkanschlüsse der Einsatzkräfte war weder beantragt noch geschaltet worden." Viele Angehörige von Loveparade-Opfern, die die Premiere im Februar gesehen haben, fanden die Vorstellung sehr gelungen und sahen hier das unausgesprochene Motto "Wir haben alle doch nur unseren Job, aber keine Fehler gemacht. Darunter ist Gabi Müller, die Mutter des toten Christian: "So ein würde– und respektvoller Umgang mit dem Thema! Besser kann man es nicht machen!" Die wegen der Corona gestoppten Vorstellungen waren alle restlos ausverkauft und sollen, sobald es geht, weitergehen. So lebt auch der jetzt eingestellte Prozess weiter: auf der Bühne.