"Das ist ein Justizskandal"
5. April 201621 Menschen kamen bei einer Massenpanik ums Leben, die am 24. Juli 2010 bei der Loveparade in Duisburg ausbrach. Mehr als 500 weitere Besucher wurden verletzt, die seelisch Geschädigten sind ungezählt. Nun hat das Landgericht Duisburg ein Strafverfahren gegen zehn Angeschuldigte abgelehnt, deren Fehlverhalten das Unglück ausgelöst haben soll. Das zentrale Beweisstück - ein Gutachten des Briten Keith Still - sei "nicht verwertbar", heißt es in der Bgründung.
Der Rechtsanwalt Julius Reiter vertritt rund 100 Opfer und Hinterbliebene, die als Nebenkläger in dem Verfahren auftreten wollten.
Herr Reiter, wie haben Ihre Mandanten die heutige Nachricht aufgenommen?
Meine Mandanten waren geschockt. Und offen gesagt war ich das auch. Denn mit dieser Entscheidung hat wirklich niemand gerechnet.
Meine ausländischen Mandanten haben zudem Verschwörungstheorien als Erklärung herangezogen, in dem Sinne, dass in Deutschland Justiz und Politik die wahren Verantwortlichen der Katastrophe schützen.
Wie begegnen Sie diesem Misstrauen gegen die deutsche Justiz?
Ich halte nichts von Verschwörungstheorien. Aber ich halte das Ganze durchaus für einen Justizskandal. Denn hier sind eindeutig Fehler gemacht worden - entweder von den Staatsanwälten oder von den Richtern.
Die Richter haben das zentrale Beweismittel der Staatsanwaltschaft als „nicht verwertbar“ eingestuft. Könnte man das als Aufforderung zur Nachbesserung verstehen?
Der Beschluss der Richter ist eine Ohrfeige für die Staatsanwaltschaft: ein Gutachten, das für eine Anklage nicht ausreicht. Die Staatsanwaltschaft sieht das natürlich anders, sonst hätte sie die Anklage ja gar nicht erhoben. Dementsprechend ist sie bereits in die Beschwerde gegangen.
Das ist ein Streit innerhalb der Justiz, der nun auf dem Rücken der Opfer ausgetragen wird. Wer hier versagt hat, spielt für die Opfer keine Rolle. Sie wollen, dass endlich die Geschehnisse aufgearbeitet werden, sie wollen wissen, warum ihre Kinder verletzt wurden oder sogar gestorben sind, warum sie körperliche, seelische und materielle Schäden erlitten haben.
Bei wem sehen Sie als Jurist die Schuld? Wie schätzen Sie das Gutachten ein?
Ich habe die von den Richtern angeführten Widersprüchlichkeiten nicht erkannt. Der Gutachter Keith Still ist ein international renommierter Sachverständiger, der im Prinzip nur festgestellt hat, was jedem klar ist, der sich die Verhältnisse bei der Loveparade einmal angesehen hat: nämlich dass der Durchgang, in dem die Massenpanik ausgebrochen ist, viel zu klein für die erwarteten und tatsächlich anwesenden Menschenmassen war.
Vielleicht hatte ihn die Staatsanwaltschaft tatsächlich nicht ausreichend mit den deutschen Gepflogenheiten bekannt gemacht. Aber das ändert nichts daran, dass Still in Anbetracht der Umstände bei der Loveparade überrascht war, dass nicht noch mehr passiert ist.
Scheitert es also am Unwillen der Richter?
Offenbar hatten die Richter Sorge, diesem Strafprozess nicht gerecht werden zu können. Möglicherweise hätte am Ende auch für einige der Angeklagten ein Freispruch gestanden. Aber diese Ablehnung ist doch eine Bankrott-Erklärung im Vorhinein.
Dem Justizskandal der Nichtzulassung setzt übrigens die Kostenentscheidung der Richter die Krone auf. Während die Strafverteidiger von der Staatskasse bezahlt werden, sollen die Opfer ihre Anwälte selbst bezahlen.
Wie geht es nun weiter?
Nach der Staatsanwaltschaft werden auch wir als Nebenkläger heute noch Beschwerde einlegen. Zudem müssen wir nun die Schadenersatzklagen auf dem zivilgerichtlichen Wege geltend machen, für den Fall dass es tatsächlich zu keinem Strafprozess kommt, in dem die Schuldigen festgestellt werden.
Darüberhinaus sollte der Landtag einen Untersuchungsausschuss einberufen, um die Verantwortlichkeiten bei der Katastrophe - frei von strafrechtlicher Schuld - zu klären. Denn die Opfer und Angehörigen - und sicher auch viele Bürger - wollen endlich wissen, was an jenem Tag in Duisburg passiert ist.
Der Düsseldorfer Rechtsanwalt Julius Reiter vertritt rund 100 Verletzte und Angehörige. In ihrem Auftrag macht er Ansprüche gegen die Veranstalter und deren Versicherer gerichtlich und außergerichtlich geltend.
Das Interview führte Jan D. Walter.