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"Wer trägt dafür die Verantwortung?"

Andrea Grunau Düsseldorf
9. Dezember 2017

In dieser Form hätte die Loveparade 2010 nicht geplant und genehmigt werden dürfen, sagt die Staatsanwaltschaft. Der Prozess hat begonnen - die Nebenkläger erhoffen sich Aufklärung. Andrea Grunau aus Düsseldorf.

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Düsseldorf Loveparade-Prozess
Ein Angeklagter (Mitte) sitzt zwischen Anwälten im Prozesssaal beim Auftakt des Loveparade-StrafprozessesBild: picture-alliance/dpa/I. Fassbender

Geschlafen hat sie nicht in dieser Nacht, sagt Gabi Müller, als sie morgens im Düsseldorfer Kongresszentrum ankommt, wohin das Landgericht Duisburg den Loveparade-Prozess wegen der vielen Prozessbeteiligten verlagert hat. Sie ist froh, dass mehr als sieben Jahre nach dem Tod ihres Sohnes Christian das Verfahren eröffnet ist. Sie hatte selbst mit einer Petition dafür gekämpft, zusammen mit der spanischen Familie Zapater, deren Tochter Clara in Duisburg gestorben ist.

Sie sei ihrem Sohn Christian schuldig, für Aufklärung zu kämpfen und nicht nur Opfer zu sein, sagt Gabi Müller, "mehr kann man ja nicht mehr tun". Jetzt ist sie eine von 65 Nebenklägern, zusammen mit verletzten und traumatisierten Überlebenden der Loveparade-Katastrophe und Angehörigen der anderen Toten aus Australien, China, Deutschland, Italien, den Niederlanden und Spanien. Nicht alle sind angereist, der Weg ist weit und belastend, Reisekosten aus dem Ausland werden nicht ersetzt. Auch im Zuschauerraum bleibt ein großer Teil der Plätze unbesetzt. Überraschend sei es, sagt Verteidigerin Kerstin Stirner, "dass das öffentliche Interesse am Prozess deutlich geringer ist, als erwartet".

Düsseldorf Loveparade-Prozess
Sie verloren ihre Kinder bei der Loveparade: Gabi Müller (Mi.) mit den Eheleuten Paco und Nuria Zapater aus SpanienBild: picture-alliance/dpa/R. Weihrauch

Die Hölle: Fußabdrücke im Gesicht

Für die 21 Toten, sagt Rebecca Doll, sei sie aus Hamburg nach Düsseldorf gekommen: "Dass das nicht unter den Teppich gekehrt wird". Die Mutter von drei Söhnen war mit ihrem Mann auf der Loveparade und konnte in letzter Minute schwer verletzt geborgen werden: "Jeder hat um sein Leben gekämpft. Mein Mann hatte Fußabdrücke im Gesicht." Beide waren an der Rampe gestürzt, dem einzigen und extrem beengten Zugang auf das Festivalgelände, als hier tausende Menschen immer enger zusammengedrängt wurden.

"Ich lag unter acht Leuten begraben, einer lag unter mir", sagt Rebecca Doll, "wir waren in der Hölle". Sie erlitt Becken-und Lungenquetschungen, musste wieder atmen lernen und kann heute noch nicht im Liegen schlafen. Außerdem habe sie wie viele andere eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten. Sie funktioniere für ihre Kinder, sagt die 34-Jährige. Sechs der Verletzten hätten die Belastungen nicht ertragen und sich das Leben genommen. Sie möchte, dass die Angeklagten darüber nachdenken, "was sie uns angetan haben".

Duisburg Vor Loveparade-Prozess
"Wir waren in der Hölle" - Rebecca Doll, Überlebende der Loveparade, an der Gedenkstätte für die Opfer des UnglücksBild: picture-alliance/dpa/R. Weihrauch

Viele Verzögerungen bis zur Anklage

Dafür verantworten müssen sich jetzt zehn Angeklagte, sechs Angestellte der Stadt Duisburg und vier Mitarbeiter des Veranstalters Lopavent, der für Planung und Durchführung des Techno-Spektakels verantwortlich war. Durch Fahrlässigkeit bei der Planung und Genehmigung, stellt Oberstaatsanwalt Uwe Mühlhoff bei der Anklageverlesung fest, hätten sie den Tod von 21 Menschen und die vielen schweren Verletzungen zu verantworten.

Es dauert fünfeinhalb Stunden, bis er die Anklage vortragen kann. Vorher dominieren die 30 Verteidiger der Angeklagten das Verfahren mit zahlreichen Anträgen und Einwendungen. Es geht um die mögliche Befangenheit zweier Schöffen, deren Töchter die Loveparade besucht und frühzeitig verlassen haben und um die Frage, ob sich potentielle Zeugen im Verfahren unter den Zuhörern befinden. Das aber würde ihre Glaubwürdigkeit beeinträchtigen, erläutert Verteidigerin Kerstin Stirner der DW. Eine Lopavent-Mitarbeiterin, die ihren Mandanten entlasten könnte, und ein Augenzeuge verlassen den Saal. Auch Rebecca Doll wird erwähnt, sie kann bleiben.

Betont freundlicher Richter erreicht sein Tagesziel

Der Vorsitzende Richter Mario Plein und seine Strafkammer stehen vor einer Herausforderung. Da sind nicht nur die Belange der vielen Nebenkläger und Verteidiger wie auch das extrem umfangreiche Akten- und Videomaterial. Zehn Jahre, nachdem das letzte Opfer gestorben ist, am 28. Juli 2020, muss ein Urteil gesprochen sein, sonst tritt die Verjährung ein.

Düsseldorf Loveparade-Prozess
Unbeirrt zur Verlesung der Anklage - der Vorsitzende Richter Mario PleinBild: picture-alliance/dpa/I. Fassbender

Mario Plein geht das Mammutverfahren ganz anders an als etwa sein strenger Kollege Manfred Götzl beim NSU-Prozess in München. Plein nimmt betont freundlich alle Anträge entgegen, murmelt manchmal vor sich hin. Er erinnert ein wenig an Peter Falk als vorgeblich harmloser Kommissar Columbo, der am Ende immer sein Ziel erreicht. Plein unterbricht oft für Beratungen, stellt dann (fast) alle Verteidiger-Anträge zurück. Das Tagesziel Verlesung der Anklage gelingt.

Anklage: Genehmigung war rechtswidrig

Eine knappe Stunde lang trägt Staatsanwalt Mühlhoff die Vorwürfe vor. Die Anklage macht unmissverständlich klar, dass er die Planung, Durchführung und Genehmigung für die Loveparade 2010 in Duisburg für rechtswidrig hält. Auf dem eingezäunten Gelände mit gefährlichen Engstellen an Tunnel und Rampen habe man sehendes Auges Sicherheitsvorschriften verletzt, obwohl man zeitweise mit 235.000 Teilnehmern rechnete. Lopavent habe geforderte Nachbesserungen nicht erfüllt, die Mitarbeiter des Bauamtes hätten sie am Veranstaltungstag nicht kontrolliert - offenbar bewusst und vorausgeplant. Tausende Menschen wurden so vor einer Engstelle von 10,59 Meter zusammengestaucht, zeitweise drängten sich sieben Menschen auf einem Quadratmeter. 

Duisburg Love Parade Massenpanik 2010
Tödliche Falle: Tausende Loveparade-Besucher wurden vor und in dem Tunnel zusammengedrängtBild: picture-alliance/dpa/E. Wiffers

Nebenklage-Anwalt Julius Reiter erläutert: "Es gab keine Notfalldurchsagen, die Anzahl der Ordner war nicht ausreichend." Entscheidend aber sei der gravierende Planungsfehler gewesen, "dass man versucht, durch ein Nadelöhr tausende Menschen in unterschiedliche Richtungen laufen zu lassen. Menschen sind keine Roboter, die da geordnet durchgehen. Insofern ist es eigentlich ein Wunder, dass nicht mehr passiert ist."

Stehen die richtigen Angeklagten vor Gericht? Gabi Müller sagt: "Es sind nicht die Falschen, auf keinen Fall, letztlich haben sie es unterschrieben. Aber es fehlen noch welche, die Hauptverantwortlichen: Die Politik hat massiven Druck gemacht, dann der Veranstalter, der Oberbürgermeister und am Tag selber die Polizei."

Duisburg - Gabi Müller, Mutter eines Loveparade-Opfers
Ihr Sohn Christian ist ihr in diesen Tagen besonders nah, sagt Gabi MüllerBild: DW/W. Dick

Während die Verteidiger schon vor dem Prozess bezweifelten, dass sich eine individuelle Schuld ihrer Mandanten belegen lasse und ihr Verhalten nicht für ursächlich halten für die Loveparade-Katastrophe, sagt Nebenklage Anwalt Julius Reiter: "Es ist so, dass die Angeklagten wussten, was sie taten." Den Vorwurf der fahrlässigen Tötung sieht er schon als Verminderung des Schuldvorwurfs: "Wenn die Stadtverwaltungsbeamten, wenn die Veranstalter wussten, dass sie Auflagen nicht erfüllen und die Veranstaltung Menschen gefährden kann, nahmen sie zumindest billigend in Kauf, dass etwa passieren kann, wenn sie es nicht verhindern."

"Was für eine Strafe ist gerecht für 21 Tote?"

Welche Erwartungen hat Nebenklägerin Gabi Müller an ein mögliches Urteil? Im Gespräch mit der Deutschen Welle sagt sie nachdenklich: "Was für eine Strafe ist gerecht für 21 Tote? Gibt es da eine gerechte Strafe? Ich glaube nicht. Es geht auch um die Aufklärung, wer trägt dafür die Verantwortung? Wie das Urteil ausfällt, liegt nicht in meiner Hand."

Der frühere Innenminister und Nebenklage-Anwalt Gerhart Baum sagt der DW: "Eine absolute Gerechtigkeit wird es nicht geben, denn diejenigen, die darauf gedrängt haben, diese Veranstaltung durchzuführen, sind nicht auf der Anklagebank."

Neben der juristischen Aufarbeitung gebe es weitere Fragen: "Welche Rolle hat die Polizei gespielt, das ist nie intern aufgearbeitet worden. Es gab keinen Untersuchungsausschuss im Landtag. Das ist ein Stück der Aufklärung und für die Mandanten unwahrscheinlich wichtig." Gabi Müller hofft, dass es beim Prozess nicht zu einem Freispruch kommt. "Wenn es keine Konsequenzen hat, wird es sich wiederholen", warnt sie.