"Ich konnte nicht mehr atmen"
12. Januar 2018"Hilfe, holt uns hier raus!!!" Der 7. Verhandlungstag im Loveparade-Prozess ist fast zu Ende, da gellen Schmerzensschreie und schrille Hilferufe durch den Gerichtssaal im Düsseldorfer Kongress-Saal. Auf drei großen Leinwänden zeigt das Landgericht Duisburg Videos mit dem Titel "Chronologie einer Katastrophe - Teil 1 bis 4". Man sieht darin, wie Menschen, die anfangs fröhlich feiern wollen, offenbar in Todesangst versuchen, aus der unerträglich engen Falle zwischen einer hohen Mauer, einer Böschung und drängenden Menschen in Tunneleingängen zu fliehen. Einige wenige entkommen über eine schmale Treppe, mehrfach werden Körper über den Köpfen der anderen weitergereicht, andere klettern selbst über die Köpfe hinweg.
Manfred B. (34), heute Nebenkläger und Zeuge im Prozess, hatte die Videos wenige Tage nach der Loveparade-Katastrophe Ende Juli 2010 auf Youtube hochgeladen. Gefilmt hatte er die ersten Sequenzen als Tagebuch für sich wie schon bei früheren Loveparades, erläutert er in der Befragung durch den Vorsitzenden Richter Mario Plein. Die späteren Aufnahmen im lebensgefährlichen Gedränge habe er gemacht, um das Geschehen zu dokumentieren. Auf dem Video hört man eine Stimme, die sagt: "So eine Scheiß-Organisation, unglaublich. Eine Einzäunung von einer Million Menschen, wie krank ist das denn?"
Das Glück, 1,90 Meter groß zu sein
Fast 40 Minuten dauert die Vorführung: Schreie und Lärm wechseln mit Stille, wenn Fotos eingeblendet werden. Auf Texttafeln macht Manfred B. klar, dass er Glück hatte, weil er 1,90 Meter groß und kräftig sei. Im Gedränge habe er fast jemanden erdrosselt, weil sein Ellbogen sich gegen dessen Hals drückte. Den Arm habe er wegziehen können, aber er hätte nicht ausweichen können, wenn jemand unter ihm gelegen hätte. Nach dem letzten Video liegt einen Moment lang tiefes Schweigen über dem großen Gerichtssaal. Man hört das Summen der Klimaanlage und den eigenen Herzschlag, der sich spürbar beschleunigt hat.
Mit dem Beginn der Beweisaufnahme steht im Prozess jetzt der Schrecken im Mittelpunkt, den die Besucher der Loveparade erlebt haben, als viele auf engstem Raum um ihr Leben kämpften. Am 24. Juli 2010 waren 21 Menschen getötet worden und mindestens 652 verletzt. Die ersten Prozesstage hatten vor allem Anträge der Verteidiger geprägt. Sie betonten zuletzt, dass ihre Mandanten - Angestellte der Stadt Duisburg und Mitarbeiter des Veranstalters Lopavent - nur "Verdächtige aus der zweiten Reihe" seien, die "Falschen auf der Anklagebank". Vor allem die Polizei werde "aus der Verantwortung herausgehalten". Die Anklage lautet auf fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung.
"Lass meine Hand nicht los!"
Rosalinda B. wurde verletzt und traumatisiert. "Die Luft wurde abgedrückt, wir wurden gedrückt von vorne und hinten, wie Sardinen in der Büchse", Rosalinda B. taucht ein in ihre Erinnerungen, als sie am Mittag als Zeugin im Loveparade-Prozess berichten soll. Die 31-jährige Duisburgerin beginnt stockend, blickt auf ihre Hände, reibt immer wieder an ihren Fingern. "Ihnen tut hier keiner was", versucht Richter Plein, sie zu beruhigen.
Ihre ältere Schwester Giusi hatte sich auf dem Weg zum Festivalgelände an der Hand verletzt, berichtet sie. Um Sanitäter zu suchen, seien die jungen Frauen umgekehrt und ins Gedränge geraten. Eine Polizeikette hätte ihnen den Weg versperrt. "Lass meine Hand nicht los", habe ihre Schwester gesagt, doch sie seien ebenso auseinandergesprengt worden wie die Polizeikette. "Ich kam mir vor, als sei ich die Kleinste gewesen, da waren nur Oberkörper und Rucksäcke", erinnert Rosalinda B. sich: "Ich konnte nicht mehr atmen." Ein junger Mann habe versucht, ihr zu helfen, doch sie sei am Fuß der Treppe gestürzt.
Überlebende: Sieben Jahre Schuldgefühle
"Neben mir lag ein junges Mädchen", von ihr erzählt sie immer wieder, die habe sie um Hilfe gebeten, Rosalinda B. hält sich die Hände vors Gesicht: "Aber das ging nicht. Ich konnte nicht helfen, weil Menschen auf mir drauf lagen. Das wurde schwerer und schwerer." Die Zeugin kIingt gequält, ist den Tränen nah: "Ich weiß nicht, ob das Mädchen überlebt hat. Seit sieben Jahren fühle ich mich schuldig", sagt sie. "Nur wer das durchgemacht hat, kann das verstehen." Rechtsanwalt Julius Reiter, dessen Kanzlei rund 100 Nebenkläger und Loveparade-Geschädigte vertritt, kennt solche "Überlebens-Schuldgefühle" auch von seinen Mandanten, berichtet er der DW.
Rosalinda B. wurde bewusstlos, wachte erst auf der Intensivstation im Krankenhaus wieder auf, sie wurde beatmet. Die Ärzte diagnostizierten eine massive Quetschung des Brustkorbs, ein Thorax-Trauma, Prellungen, einen psychischen Schock. Sie hatte starke Schmerzen. Wochenlange Klinikaufenthalte folgten, um ihre Traumatisierung zu behandeln. Bis zum vergangenen Jahr sei sie arbeitsunfähig gewesen, sagt die 31-Jährige, jetzt mache sie eine Ausbildung in der Pflege. Wenn sie sich an damals erinnere, spüre sie noch heute "diesen ungeheuren Druck".
"Ich bin gelaufen wie ein Zombie"
Als sich das lebensgefährliche Gedränge auf der Loveparade in Duisburg löste, lagen direkt vor ihm zwei leblose Körper, berichtet Manfred B. Sachlich erzählt er, wie er versuchte, sie mit Mund-zu-Mund-Beatmung zu reanimieren. Ein Polizist habe ihm geholfen, bis Sanitäter übernommen hätten, in beiden Fällen vergeblich. Er erinnert sich an die Farben der Kleidungsstücke: pink und grün.
Als nichts mehr zu tun war, sei er die Treppe hochgegangen. Bis abends sei er auf dem Festivalgelände geblieben, wo viele Raver feierten, die nicht wussten, was passiert war. "Das war sehr surreaI, ich bin gelaufen wie ein Zombie", berichtet der angehende Lehrer.
"Ich bin kein Held", hat Manfred B. als Text in sein Video geschrieben. Im Gedränge hatte er versucht, einer jungen Frau zu helfen, die auf dem Boden unter vielen anderen niedergedrückt wurde. "Wir kommen hier raus", hört man ihn im Video sagen. Er bat sie zu kämpfen, nicht aufzugeben. Er habe ihre Hand gehalten. 2010 wurde er zusammen mit anderen privaten Helfern von Bundespräsident Christian Wulff geehrt. Über seine Videos fand er das Mädchen wieder, deren Hand er gehalten hatte. Im Dezember 2010 wurde er zusammen mit ihr in eine Talkshow eingeladen.
Aufklärung, Verdrängung, viel Traurigkeit
Für traumatisierte Zeugen dürfte es sehr schwer sein, sich an Einzelheiten zu erinnern, die zur weiteren Aufklärung beitragen, vermutet Verteidigerin Kerstin Stirner. Auch Rosalinda B. hat ausgesagt, dass sie versucht habe, viel zu verdrängen, sie zog sogar aus Duisburg weg. "Umso wichtiger sind Personen wie der zweite Zeuge, der einen so stabilen Eindruck machte, dass er möglicherweise einen detaillierteren Eindruck von den Ereignissen vermitteln kann. Daher soll dieser Zeuge zu einem späteren Zeitpunkt noch intensiver befragt werden", teilte Stirner der DW mit.
Aus Sicht der Verteidigung sei es von Interesse, "ob und wie Einzelne die Ereignisse am Veranstaltungstag, insbesondere natürlich die Polizeiketten und deren unmittelbar spürbare Folgen, wahrgenommen haben". Das sei wichtig für "die Frage der Ursächlichkeit einzelner Umstände für die Tragödie".
Die Vernehmung von Manfred B. wurde unterbrochen und soll nächste Woche fortgesetzt werden. Ja, er wirkt stabil, doch als der Vorsitzende Richter Mario Plein ihn fragt, wie er die Ereignisse psychisch verkraftet habe, schweigt er zuerst. Dann berichtet er von Traurigkeitsschüben und dass er "viel weinen musste". Auch wenn er arbeiten könne und wieder in die Disco gehe, wenn er befragt werde und sich mit der Loveparade beschäftige wie jetzt für den Prozess, dann merke er innerlich "viel Traurigkeit".