Loveparade-Prozess geht nur eingeschränkt weiter
6. Februar 2019Für den Tod der 21 jungen Menschen, die bei der Massenpanik auf der Loveparade am 24. Juli 2010 in Duisburg starben, wird möglicherweise niemand je verurteilt werden. Das Landgericht Duisburg hat das Verfahren gegen sieben Angeklagte einstellen. Die Beweislage reichte nach Auffassung des Gerichts nicht aus, um den insgesamt zehn Angeklagten - sechs ehemaligen Mitarbeitern der Stadt Duisburg und vier des Veranstalters Lopavent - individuelle Schuld nachzuweisen.
Dem stimmte auch die Staatsanwaltschaft zu. Als weiteren Grund für ihre Zustimmung nannte die Staatsanwaltschaft den Umstand genannt, dass am 28. Juli 2020 die Verjährung eintritt. Das nach dem Gesetz für ein Urteil erforderliche Beweisprogramm könne bis dahin auch bei größter Anstrengung nicht absolviert werden. So müssten die meisten der im zentralen Sachverständigengutachten genannten 575 Zeugen noch vernommen werden. In den vergangenen 14 Monaten hat das Gericht 59 Zeugen und 8 Sachverständige vernommen.
Aber drei Lopavent Angestellte lehnten die Einstellung des Verfahrens ab. Ihre Fälle werden bald separat weiterverhandelt. Einer der Angeklagten, der die Beendigung des Prozesses ablehnt, wolle sich nicht "damit abfinden, für ein 'schnelles Ende' auf die Feststellung seiner Unschuld verzichtet zu haben", sagte sein Anwalt dem Westdeutschen Rundfunk.
Dass etwas katastrophal schief gelaufen ist am 24. Juli 2010, daran zweifelt keiner. Bei der Massenpanik an einem Tunnel im Eingangsbereich des Loveparade-Geländes waren 21 Menschen ums Leben gekommen. Mehr als 650 Besucher der Techno-Großveranstaltung wurden verletzt und traumatisiert. Aber das Gericht deutete die tödliche Panik, in der die Opfer erdrückt oder totgetrampelt wurden, als "multikausales Geschehen." Mit anderen Worten: Es wurden so viele Fehler gemacht, dass die Schuld oder Unschuld einzelner Person praktisch nicht festgestellt werden kann.
"Wer hier versagt hat, spielt für die Opfer keine Rolle." Das sagte Opferanwalt Julius Reiter der DW im April 2016, als die Eröffnung des Verfahrens zunächst abgelehnt wurde. Die Angehörigen, so Reiter damals, "wollen, dass endlich die Geschehnisse aufgearbeitet werden, sie wollen wissen, warum ihre Kinder verletzt wurden oder sogar gestorben sind, warum sie körperliche, seelische und materielle Schäden erlitten haben." Seine Worte haben nichts von ihrer Aktualität verloren.
Mittlere bis geringe Schuld
Im Januar dieses Jahres hatte der vorsitzende Richter Mario Plein ein nicht-öffentliches Gespräch zwischen allen Staatsanwälten, Verteidigern und Opfer-Anwälten angeordnet. Danach wurden die Angeklagten in zwei Gruppen eingeteilt: Für die sechs Mitarbeiter der Stadt sowie den sogenannten Kreativdirektor des Veranstalters Lopavent sollte das Strafverfahren wegen geringer Schuld beendet werden. Sie waren zwar an der Planung der Loveparade beteiligt gewesen, sollen aber am Tag der Veranstaltung nicht mehr in der Lage gewesen sein, die Katastrophe noch abzuwenden.
Die drei verbliebenen Lopavent-Mitarbeiter sind diejenigen, gegen die nun weiter verhandelt werden wird. Ihnen wird eine "mittlere Schuld" zur Last gelegt. Die Staatsanwaltschaft wäre mit einer Einstellung ihrer Verfahren nur einverstanden gewesen, wenn jeder von ihnen eine "angemessene" Summe von etwa 10.000 Euro an eine gemeinnützige Einrichtung gezahlt hätte. Die drei waren am Veranstaltungstag in operativen Positionen tätig und hätten möglicherweise noch etwas verhindern können.
Prozesseinstellung als Zeichen der Rechtsstaatlichkeit?
Der Loveparade-Eingangsbereich wird im Sommer 2010 zur tödlichen Falle: Das Veranstaltungsgelände kann nur durch einen Tunnel erreicht werden. Menschen stauen sich, es entsteht eine Massenpanik. Am späten Nachmittags des 24. Juli 2010 werden die ersten Toten gemeldet, noch während die Techno-Party in vollem Gange ist. Bei einer Pressekonferenz am nächsten Tag wiesen Duisburgs damaliger Oberbürgermeister Adolf Sauerland, Vertreter der Polizei und Lopavent-Geschäftsführer Rainer Schaller jegliche Schuld von sich.
Nach einer langwierigen Beweisaufnahme erhebt die Staatsanwaltschaft Duisburg mehr als dreieinhalb Jahre nach der Katastrophe im Februar 2014 Anklage gegen die sechs Mitarbeiter der Stadt und vier Lopavent-Angestellten. Doch im April 2016 verkündet das Landgericht Duisburg die Einstellung des Verfahrens, weil eine Verurteilung der Angeklagten nicht abzusehen sei. Staatsanwaltschaft und Opferanwälte gehen in Berufung - und haben Erfolg. Am 8. Dezember 2017 wird der Prozess eröffnet - aufgrund des großen öffentlichen Interesses im Kongresszentrum der Düsseldorfer Messe. Der Gerichtssaal in Duisburg wäre zu klein gewesen.
Nach der Anhörung von gut 3500 Zeugen im Verlauf der Ermittlungen, nach mehr als 44.000 gefüllten Aktenseiten kommt das Verfahren gegen die Mehrheit der Angeklagten nun zum Ende. Rechtsexperten sagen, dass sich so die Rechtsstaatlichkeit Deutschlands zeige.
"Ich glaube nicht, dass sich das Gericht die Entscheidung leicht gemacht hat", sagte Gereon Wolters, Professor für Strafrecht an der Ruhr Universität Bochum, der "Westdeutschen Allgemeinen Zeitung". "Wir wollen alle einen Schuldigen, aber wenn wir keinen finden, dann dürfen wir auch keinen erfinden."
Katastrophale Fehlerkette
Schuld, das sagt auch das Gutachten von Verkehrsplaner Jürgen Gerlach, das dieser für den Prozess erstellte, waren eben viele Menschen, die an verschiedenen Zeitpunkten falsche Entscheidungen fällten, die letztlich zur Katastrophe führten.
Lopavent habe die Loveparade schlecht organisiert, die Stadt hätte sie so nie genehmigen dürfen. Das Gelände sei viel zu klein gewesen, vor den beiden Tunneleingängen habe zu wenig und falsch postiertes Personal gearbeitet. Polizisten und Ordner hätten phasenweise weder über Funk noch über Handy kommunizieren können, außerdem habe es keine Lautsprecher gegeben, um die Massen in der Gefahrenzone zu lenken.
Bis 16.31 Uhr hätte die Katastrophe laut Gerlachs Gutachten noch verhindert werden können. Danach ließ sich die tödliche Panik nicht mehr aufhalten. Zum "multikausalen Geschehen" kommt als weitere Schuldminderung hinzu, dass es in Nordrhein-Westfalen, dem Bundesland, in dem Duisburg liegt, 2010 keine klaren gesetzlichen Regeln für Großveranstaltungen gegeben habe, erklärte Richter Plein im Januar. Legal lässt sich die Einstellung des Prozesses gegen alle Mitarbeiter der Stadt Duisburg und den Kreativdirektor von Lopavent so erklären. Für die Angehörigen der jungen Leute aber, die bei der Loveparade starben, und für die vielen noch immer Traumatisierten, die sich damals aus der panischen Menschenmasse retten konnten, wird sie vermutlich dennoch schwer zu verstehen sein.