EU-Reaktionen auf Erdogan
12. Juni 2013Quer durch alle Fraktionen des Europaparlaments besteht Einigkeit in der Verurteilung des Vorgehens der türkischen Polizei gegen die Demonstranten. Die Folgerungen daraus für die europäische Türkei-Politik gehen aber weit auseinander. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton bedauerte vor dem Parlament in Straßburg: "Wir haben in den vergangenen zwei Wochen zu viele Beispiele exzessiver Polizeigewalt gesehen: den Einsatz von Tränengas, Wasserwerfern, Pfefferspray, Plastikgeschossen aus nächster Nähe gegen Demonstranten, die ganz überwiegend friedlich waren."
Sie verurteilte ebenfalls die Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit. Das demokratische Mandat von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan stehe nicht infrage, fügte sie hinzu. Der Regierungschef solle es aber nicht gegen diejenigen missbrauchen, die anderer Meinung seien als er. Ashton setzt dabei ganz auf Deeskalation - und auf weiteres europäisches Engagement: "Dies ist nicht der Moment, sich von der Türkei zurückzuziehen, sondern einen engeren Dialog zu suchen."
Samthandschuhe oder Härte?
Diese Strategie spaltet das Europaparlament. Der spanische Konservative José Ignacio Salafranca lobt Ashtons Türkei-Kurs, weil das Land für die EU und die NATO als Partner zu wichtig sei. Auch erkenne er "zahlreiche Reformen" dort an: "Daher können wir uns eine von der EU ausgehende Destabilisierung der Lage in der Türkei nicht erlauben." Andere Parlamentarier sind für ein härteres Auftreten der EU-Außenvertreterin. Und einige haben sich besonders geärgert, dass Ashton nicht nur die türkische Regierung, sondern auch die Demonstranten zur Zurückhaltung aufgerufen hatte. Der irische Sozialist Paul Murphy erzählte begeistert, wie er in den vergangenen Tagen bei den Demonstranten in Istanbul gewesen und von Ashtons Aufruf entsetzt gewesen sei. An sie gewandt, rief er aus: "Gegen Ihren Rat sage ich den Demonstranten: 'Zeigen Sie keine Zurückhaltung!'"
Beitrittsverhandlungen auf Eis
Erst recht turbulent wurde die Debatte bei der Frage, wie die EU nun weiter mit der Türkei umgehen soll. Seit einigen Jahren führt Brüssel mit Ankara Beitrittsverhandlungen. Seit 2010 liegen diese aber auf Eis. Offiziell sollen die Verhandlungen irgendwann zur EU-Vollmitgliedschaft führen. Allerdings hatten vor allem konservative Abgeordnete seit jeher Zweifel an diesem Weg. Sie fühlen sich jetzt bestätigt.
Dagegen würde die laufende irische Ratspräsidentschaft die Beitrittsverhandlungen gern noch vor Ablauf ihres Vorsitzes Ende des Monats wiederbeleben - und ein neues Verhandlungskapitel eröffnen, das über Regionalpolitik. Doch auch prinzipiell wohlmeinende Abgeordnete wie Sozialisten-Fraktionschef Hannes Swoboda glauben, daraus werde erst einmal nichts. Erdogan müsse sich ändern, "wenn er nicht die Türkei von Europa wegführen will und weg von der Achtung europäischer Werte." Auch Liberalen-Fraktionschef Guy Verhofstadt ist "entschieden für die europäische Option der Türkei", sieht aber die Vision der Mitgliedschaft in dem Maße schwinden, wie die Türkei "sich von europäischen Grundsätzen und Werten abwendet."
Die Norwegen-Lösung
Der deutsche CSU-Abgeordnete Bernd Posselt dagegen verlangt "den sofortigen Stopp der Beitrittsverhandlungen". Das hatte er allerdings auch schon vor den jüngsten Ereignissen getan. Denn ihm geht es nicht nur darum, dass "die Türkei die Beitrittskriterien immer weniger erfüllt", sondern er sieht die Türkei schlicht als kein europäisches Land - was Verhofstadt vehement bestreitet. So prallen die Meinungen zur Türkei erneut heftig aufeinander.
Differenzierter sieht es Posselts Landsmann Elmar Brok. Der CDU-Politiker ist auch Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Europaparlaments. Die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen zum jetzigen Zeitpunkt kommt für ihn schon deshalb nicht infrage, "weil das eine Beleidigung für die Menschen ist, die jetzt ins Gefängnis gekommen sind." Das müsse man "ein Stückchen verschieben".
Grundsätzlich ist zwar auch er gegen eine Vollmitgliedschaft, er sucht aber nach neuen Wegen, die die Türkei nicht als Brüskierung empfinden soll. Ihm schwebt als Alternative eine erweiterte "Norwegen-Lösung" vor, eine enge wirtschaftliche Einbindung ohne politische Integration. Das ist ausnahmsweise mal eine Idee, für die sich sogar die britischen Euroskeptiker erwärmen können, wie einer von ihnen, der Konservative Geoffrey van Orden, andeutete. Doch nüchterne Analysen zu dem Thema gingen bei dieser emotionsgeladenen Debatte weitgehend unter, es war einfach der falsche Zeitpunkt.