Jetzt erst recht!
13. Juni 2013"Die türkische Regierung sendet mit ihrer bisherigen Reaktion auf die Proteste das falsche Signal, ins eigene Land, aber auch das falsche Signal nach Europa", sagte Außenminister Guido Westerwelle im Deutschen Bundestag in einer Aktuellen Stunde zur Lage in der Türkei. Die Bilder vom Taksim-Platz bezeichnete er als "verstörend": "Die türkische Regierung muss Europa und der Welt zeigen, dass sie sich von den Grundsätzen leiten lässt, zu denen sie sich im Rahmen des Europarates verpflichtet hat: Demokratie, Freiheitsrechte und die Herrschaft des Rechts", erklärte der Außenminister vor den Abgeordneten.
Bundespräsident Joachim Gauck zeigte sich in einem Telefonat mit dem türkischen Präsidenten Abdullah Gül ebenfalls besorgt über die "exzessive Gewalt" in dem Land. Bundeskanzlerin Merkel hatte sich bereits Anfag Juni kritisch zu der Entwicklung in der Türkei geäußert und zur Besonnenheit aufgerufen.
Stopp der Beitrittsverhandlungen?
Angesichts der Krawalle forderten einige konservative Europa-Abgeordnete aus Deutschland einen Stopp der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Markus Pieper, Peter Liese (beide CDU) und Bernd Posselt (CSU) appellierten an den Rat der EU, Ende Juni nicht wie geplant ein neues Beitrittskapitel zur Regionalförderung zu eröffnen. Das sei das völlig falsche Signal für ein zunehmend autoritäres Regime.
Für den deutschen Sozialdemokraten Johannes Kahrs wäre ein Abbruch des Verhandlungsprozesses ein Schritt in die falsche Richtung. Kahrs, der als Bundestagsabgeordneter der SPD die deutsch-türkische Parlamentariergruppe führt, kritisierte das Vorgehen von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zwar scharf, ist aber davon überzeugt, dass eine Abkehr Europas von der Türkei den Demokratisierungsprozess im Lande weit zurückwerfen würde. "Nur im Rahmen dieses Beitrittsverfahrens werden die Werte gestärkt, die die Demonstranten gerade einfordern", erklärte Kahrs gegenüber der DW. Jetzt den Gesprächsfaden mit Ankara abreißen zu lassen, wäre kontraproduktiv.
Selbstverschuldeter Einflussverlust
Dass die Einflussmöglichkeiten Deutschlands derzeit so gering sind, liege nicht zuletzt daran, dass Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs damaliger Präsident Nicolas Sarkozy der Türkei vor geraumer Zeit signalisiert hätten, dass sie in der EU unerwünscht sei. Im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses hätte man große Einflussmöglichkeiten gehabt, weil die Türkei den Beitritt wirklich wollte, so Kahrs. "Nachdem wir der Türkei mit der Floskel von der 'privilegierten Partnerschaft' praktisch den Stuhl vor die Tür gesetzt haben, hat sich die Türkei in vielen Belangen neu orientiert - selbst die Mehrheiten in der Bevölkerung für den EU-Beitritt sind weg. Hier war aber immer unsere stärkste Möglichkeit, um auf türkische Innenpolitik Einfluss zu nehmen."
Auch Ruprecht Polenz, außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, sprach sich für die Weiterführung der Beitrittsverhandlungen aus. Er äußerste die Hoffnung, dass durch einen jetzt angeregten Lernprozess die türkische Demokratie sogar "gestärkt" aus der Konfrontation hervorgehen könne. "Was können wir tun?", fragte Polenz im Bundestag und antwortete unter Applaus: "Ich denke, wir müssen den EU-Prozess neu beleben."
Dabei wolle er ganz bewusst das Kapitel der Verhandlungen ansprechen, in dem es um Justiz- und Grundrechte gehe. "Es wäre ideal geeignet, um gerade jetzt mit der Türkei über die strukturell notwendigen Veränderungen zu sprechen, die auch in den Fortschrittsberichten immer schon angemahnt worden sind." Wenn man jetzt die Beitrittsverhandlungen wieder aufnehme, könne Deutschland auch institutionell nachhaltig auf die Türkei einwirken.
Positive Bewertung der Proteste
Wie viele andere deutsche Politiker deutet Polenz die Auseinandersetzungen in der Türkei auch als Erstarken der Zivilgesellschaft. Außenminister Westerwelle äußerte sich ebenfalls in diese Richtung: "Demonstrationen, wie sie jetzt stattfinden, sind ein Zeichen auch der Reifung und auch der Stärkung der Zivilgesellschaft. Darüber muss man sich freuen, und davor darf man sich nicht fürchten."
Auch Johannes Kahrs stellte sich auf die Seite der Demonstranten: "Wir in Europa sind kein Christenclub, sondern eine Wertegemeinschaft", so Kahrs. "Und die Werte, die wir erwarten, sind eben auch die Werte, für die zurzeit demonstriert wird."