Kinderpornografie: Versagen Staat und Politik?
10. Juni 2020Das Entsetzen ist groß, nachdem die Polizei erneut ein Netzwerk von professionell organisiertem sexuellem Kindesmissbrauch aufgedeckt hat. In einer Kleingartenanlage in Münster wurden über Jahre hinweg Kinder brutal vergewaltigt, die Taten gefilmt und im Darknet verkauft. Die Mutter des Hauptverdächtigen, Erzieherin in einer Kindertagesstätte, soll von den Taten gewusst haben, die Gartenlaube gehört ihr.
Münster ist kein Einzelfall. Immer mehr kinderpornografische Netzwerke werden in Deutschland aufgedeckt. Laut Kriminalstatistik bearbeitete die Polizei 2019 mehr als 12.000 Fälle von Kinderpornografie, das waren 65 Prozent mehr als im Jahr 2018. Auch die Gesamtzahl aller Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern stieg um rund neun Prozent auf etwa 15.900.
Immer brutaler und immer mehr?
Liegt die statistische Zunahme daran, dass die Polizei mehr Fälle aufdeckt als noch vor ein paar Jahren, oder werden heute tatsächlich mehr Kinder missbraucht als früher? Tatsächlich ist die Polizei im Bundesland Nordrhein-Westfalen, wo Münster liegt, ermittlungstechnisch aufgerüstet worden. Andererseits ist es im Internetzeitalter sehr viel einfacher, pornografisches Material zu verkaufen. Die Nachfrage wächst. Der Handel damit, so stellt die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer fest, sei inzwischen auch "ein großer Markt, eine Industrie".
Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer will in einem ersten Schritt das Strafrecht verschärfen. Während auf sexuellen Kindesmissbrauch in Deutschland in schweren Fällen bis zu 15 Jahre Haft stehen, haben diejenigen, die sich die Taten auf Bildern und Videos ansehen, vergleichsweise wenig zu befürchten. "Es kann nicht sein, dass der einfache Ladendiebstahl mit einem höheren Strafrahmen belegt ist, als es der Fall ist, wenn es darum geht, dass man sich kinderpornografisches Material beschafft", kritisiert die CDU-Chefin.
Der Staat muss viel früher eingreifen
Doch das Strafrecht ist nur ein Aspekt, wenn es darum geht, sexuellen Missbrauch zu verhindern. Viel wichtiger ist, die Kinder vor dem Zugriff der Täter frühzeitig zu schützen. Oft sind es Väter, Onkel oder Freunde der Familien. Auch unter Duldung oder Hilfe der Mütter. Das zu erkennen und zu verhindern, ist zunächst die Aufgabe der mehr als 560 kommunalen Jugendämter in Deutschland.
Sie müssen nicht nur beim Verdacht von sexuellem Missbrauch eingreifen, sondern immer, wenn sie eine Gefährdung durch Gewalt oder Vernachlässigung feststellen. Laut statistischem Bundesamt war das 2018 bei rund 50.400 Kindern der Fall - zehn Prozent mehr als im Jahr davor.
"Missbrauchstäter sind Meister der Täuschung"
Allerdings ist es für die Mitarbeiter der Jugendämter oft nicht einfach, Missbrauch zu erkennen. "Oft fehlen für sexuelle Gewalt erkennbare Indizien", sagt der Bundesbeauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig. "Kinder und auch Mitwissende aus dem sozialen Umfeld stehen oft unter einem enormen Schweigedruck. Missbrauchstäter sind Meister der Täuschung, sie setzen alles daran, ihre perfiden Strategien so auszurichten, dass ihr Umfeld möglichst nichts mitbekommt und dass sie unentdeckt bleiben."
Andererseits ist es aber auch im Verdachtsfall in Deutschland nicht so einfach möglich, ein Kind vorübergehend oder dauerhaft aus einer Familie zu nehmen. "Wir haben vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Nationalsozialismus im Grundgesetz eine Regelung getroffen, die besagt, Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern", erläutert Hans-Jürgen Schimke, emeritierter Jura-Professor der Universität Münster und Experte für Kinderrecht. Das Recht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder sei nicht vom Staat verliehen, sondern ein Menschenrecht: "Da darf der Staat nicht eingreifen."
Sonderfall Deutschland
Es ist eine Besonderheit, auch im internationalen Vergleich. "In den USA beispielsweise gibt es dieses Elternrecht nicht. Die gehen viel pragmatischer heran. Schon wenn jemand seine Kinder allein lässt oder auf dem Spielplatz nicht beaufsichtigt, läuft er Gefahr, dafür bestraft zu werden", sagt Schimke der DW. "In Dänemark werden Kinder ab der Geburt von einer Familienpflegerin begleitet, die natürlich ganz intensiv das elterliche Verhalten betrachtet." Auch in Frankreich gebe es ein völlig anderes Verhältnis zwischen Staat und Eltern: "Sie nennen das Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung, nicht in privater Verantwortung."
Laut statistischem Bundesamt lebten in Deutschland 2018 rund 175.000 Kinder in Heimen oder in einer Pflegefamilie. Eine solche Inobhutnahme kann das Jugendamt nur beantragen, entscheiden muss am Ende ein Familiengericht. Dort wiegt das Elternrecht aber oft schwerer als die potenzielle Gefährdung. "Die Richter müssen Gründe finden, um das Sorgerecht zu entziehen und neigen dann dazu, den Müttern zu glauben, dass sie sich doch um ihre Kinder kümmern und nur das Beste wollen", berichtet der Jurist Schimke aus Erfahrung, da er lange Jahre auch Vorsitzender des Kinderschutzbundes in Nordrhein-Westfalen war.
Jugendamt empfiehlt, Richter entscheiden
Oft habe das Jugendamt schon lange Jahre mit der Familie gearbeitet und wisse ganz genau, was sich dort abspiele. "Dann kommt man vor Gericht. Dort sind die Eltern anwaltlich begleitet und gut angezogen. Dann sagt der Richter: 'Was wollt ihr eigentlich? Das sind doch ganz tolle Leute'", berichtet Schimke: "Das ist das größte und grundsätzliche Problem dabei, weil Richter oft unerfahren sind und nicht die ganzen Tiefen und Abgründe menschlicher Existenz kennen."
So war es offenbar auch im Fall des Pädophilen-Netzwerks in Münster. Das Jugendamt der Stadt wollte der Mutter eines der Opfer das Sorgerecht entziehen, weil ihr Lebensgefährte wegen des Besitzes und des Vertriebs pornografischer Daten aufgefallen war. Da der Mann aber nicht mit seiner Lebensgefährtin zusammenwohnte, sah das Familiengericht keinen Anlass, das Kind aus der elterlichen Verantwortung zu nehmen.
Überlastete Jugendämter
Urteilt das Familiengericht gegen die Empfehlung des Jugendamtes, sind dem erst einmal die Hände gebunden. Zwar kann das Amt in einem solchen Fall in die nächste juristische Instanz gehen, aber das kostet wertvolle Zeit, in der das Kind weiter in der Familie lebt.
Angesichts der vielen Fälle, die jeder Mitarbeiter im Jugendamt zu betreuen hat, ist der Gang durch die juristischen Instanzen oft nur schwer zu leisten. Fehlendes Personal und die chronische Überlastung der Jugendämter haben in vielen Fällen dazu geführt, dass Kinder am Ende doch zu Opfern von Verwahrlosung oder Gewalt in der Familie wurden.
Ist Datenschutz Täterschutz?
Politiker und Kinderschutzbeauftragte appellieren daher an die Gesellschaft, genauer hinzuschauen und im Verdachtsfall staatliche Stellen oder Hilfsorganisationen zu informieren.
Die CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer drängt aber auch darauf, das Datenschutzrecht zu reformieren. Die Verbreitung von Kinderpornografie im Internet lasse sich am besten durch den Zugriff auf gespeicherte Telekommunikations-Verkehrsdaten wirksam aufklären, argumentiert sie: "Ich weiß, dass das Thema der sogenannten Vorratsdatenspeicherung auch rechtspolitisch ein sehr heikles ist. Aber wenn es an einer Stelle wirklich berechtigt ist, davon zu sprechen, dass Datenschutz Täterschutz ist, dann ist es im Bereich der Kinderpornografie."