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Falsche Ehre

Sabine Ripperger28. Juli 2011

Der Mord an Hatun Sürücü hat viele Debatten in Deutschland ausgelöst - über sogenannte Ehrenmorde, Zwangsehen und Parallelgesellschaften. Jetzt gibt es ein Buch und einen Film über den Fall.

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Die Grabstelle von Hatun Sürücü auf dem Islamischen Friedhof in Berlin-Gatow (Foto: picture alliance / dpa)
Die Grabstelle von Hatun Sürücü auf dem Islamischen Friedhof in Berlin-GatowBild: picture alliance/dpa

Hatun Sürücü wollte ein selbstbestimmtes Leben führen und hatte dadurch angeblich die Ehre der Familie beschmutzt. Deshalb wurde die 23-jährige Deutsche kurdischer Herkunft am 7. Februar 2005 von ihrem Bruder Ayhan an einer Bushaltestelle in Berlin-Tempelhof unweit ihrer Wohnung erschossen.

Der Mord an der jungen Frau, der seinerzeit viel Aufsehen erregte, wurde nun nach mehrjähriger Recherche der beiden Journalisten Matthias Deiß und Jo Goll aufgearbeitet - in einer TV-Dokumentation mit dem Titel "Verlorene Ehre - Der Irrweg der Familie Sürücü". Parallel dazu veröffentlicht der Verlag Hoffmann und Campe die Ergebnisse der umfangreichen Nachforschungen in einem Buch unter dem Titel "Ehrenmord - ein deutsches Schicksal".

Die Journalisten Mattias Deiss und Jo Goll bei der Buchvorstellung in Berlin (Foto: AP/dapd)
Die Journalisten Mattias Deiss und Jo Goll bei der Vorstellung ihres BuchsBild: AP

Selbstbestimmt leben

Als fünftes von neun Kindern türkischer Kurden wächst Hatun Sürücü in Berlin-Kreuzberg auf. Ihre Eltern waren 35 Jahre zuvor aus Ostanatolien nach Deutschland gekommen. Bereits mit 16 Jahren wird Hatun aus der Schule genommen und mit einem Cousin in der Türkei verheiratet. Doch die Ehe scheitert, schwanger kehrt sie nach Berlin zurück. Hatun macht schließlich eine Ausbildung als Elektroinstallateurin und zieht in eine eigene kleine Wohnung, will selbstbestimmt leben und legt ihr Kopftuch ab. Der Familie missfällt das alles sehr, sie sieht sich durch Hatuns Verhalten in ihrer Ehre verletzt.

Die beiden Autoren Deiss und Goll wollten verstehen, wie es zu der Eskalation kommen konnte. Sie wollten herausfinden, welche Umstände dazu führten, dass die junge Frau sterben musste. Sie bemühten sich deshalb um Kontakt zu einzelnen Familienmitgliedern, was sich jedoch als sehr schwierig erwies. Bei Dreharbeiten in der Jugendstrafanstalt Berlin im Jahr 2008 lernte Fernsehjournalist Matthias Deiß den Mörder von Hatun Sürücü kennen, ihren jüngeren Bruder Ayhan.

Der 18-Jährige war nach der Tat zu neun Jahren und drei Monaten Haft verurteilt worden. Deiß entschloss sich, gemeinsam mit seinem Kollegen Joachim Goll die Hintergründe des Ehrenmordes zu recherchieren. Es habe lange Zeit gebraucht, den jungen Mann zum Reden zu bewegen, sagt Matthias Deiß. Es ging um die Frage: Ehrenmord in Deutschland - wie ist so etwas möglich? Bis heute nimmt Ayhan die gesamte Schuld auf sich.

Weder Mitleid noch Reue

Dreimal hat Ayhan seiner Schwester Hatun in den Kopf geschossen. Sechs Jahre danach sagt er: "Es war falsch, meine Schwester zu töten." Er zeige jedoch kein Mitleid, keine Reue, meint Autor Matthias Deiß, der Ayhan mehrfach im Gefängnis gesprochen hat: "Wenn es um seine Schwester Hatun geht, dann werden die Augen doch merklich kalt, dann kann er ihren Namen nicht in den Mund nehmen. Er sagt eben, er konnte ihr Leben, wie sie es damals geführt hat, nicht akzeptieren."

Und das kann er offenbar immer noch nicht, auch wenn er nach Angaben von Autor Deiß inzwischen sagt, dass die Tat der größte Fehler seines Lebens war. "Aber er kann ihr immer noch keinen Respekt zollen oder Hochachtung für ihren Weg, den sie gegangen ist", so Deiß weiter.

Der Täter und die Ehre

Hatun Sürücü hatte das traditionelle Kopftuch abgelegt, hatte eine eigene Wohnung und einen deutschen Freund. Das freie Leben seiner Schwester Hatun wurde für Ayhan unerträglich. Er sah die Ehre der Familie beschmutzt, weil Hatun wie eine Deutsche lebte: "Für meine Vorstellungen damals zu sehr freizügig und zu sehr offen, was den Umgang mit Männern betrifft, mehrere Beziehungen oder das Nachtleben."

Während er selbst ein freizügiges Leben genießen konnte, sollte das seiner Schwester, die selbstbestimmt leben wollte, verwehrt bleiben. Die Werte und Normen Ayhans sind bis heute tief in der kurdischen Tradition verwurzelt, obwohl er in Deutschland zur Schule ging und auch seinen Dienst in der Bundeswehr leistete. Die Dokumentation gibt Einblick in die Denkweise des Täters, so Deiss: "Das ist die Familiengeschichte, die Werte, die sie aus Ostantolien Anfang der 1970er mitgebracht haben, die sie behalten haben. Das ist das Umfeld, der Kiez, der zusätzlich Druck ausübt, wo Veränderungen nicht toleriert werden."

Bluttat zerstörte die Familie

Die einst elfköpfige Familie ist heute zerrissen, ein Teil von ihr lebt wieder in der Türkei. Die Tat, die die Ehre der Familie bewahren sollte, habe das Gegenteil bewirkt, sagt Autor Jo Goll: "Die Familie ist zerstört. Von dieser Familienehre, die letztendlich durch die Tat wieder hergestellt werden sollte, ist mutmaßlich nicht viel geblieben. Ein Teil der Brüder lebt in Istanbul, einige Schwestern leben ebenfalls in der Türkei. Viele reden nicht mehr miteinander." Der Vater ist bereits vor einigen Jahren gestorben. Die einzigen, die noch in Berlin leben, sind die Mutter und die jüngste Tochter. Er habe den Eindruck, so Goll, dass sie warten, bis Ayhan aus dem Gefängnis kommt. Dann würden wahrscheinlich auch sie in die Türkei zurückgehen.

Zwei Schwestern der ermordeten Hatun Sürücü nach dem Urteil gegen ihren Bruder (Foto: picture alliance / dpa)
Zwei Schwestern der ermordeten Hatun Sürücü nach dem Urteil gegen ihren BruderBild: picture-alliance / dpa/dpaweb

Nach wie vor ist unklar, ob der Mord tatsächlich die alleinige Tat von Ayhan war oder gar auf Familienbeschluss geschah, so wie es Kronzeugin Melek, die damalige Freundin Ayhans, im Prozess schilderte. Ihretwegen standen auch Ayhans Brüder vor Gericht, mit schwerwiegenden Folgen für Melek. Sie lebt heute mit ihrer Mutter unter neuer Identität irgendwo in Europa.

Die Freisprüche aus Mangel an Beweisen für Mutlu und Alpaslan hatte der Bundesgerichtshof 2007 wieder aufgehoben. Da waren sie bereits in der Türkei. "Es lässt sich abschließend nicht beurteilen, ob es einen Familienbeschluss zum Mord gab", sagen Goll und Deiß.

Versäumnisse der Mehrheitsgesellschaft?

Die Frage nach Parallelwelten in Stadtteilen wie Kreuzberg wird in der Fernseh-Dokumentation ebenso aufgeworfen wie die Frage, wie es sein könne, dass ein hier lebender Einwanderer überhaupt keinen Kontakt zu Deutschen habe. Eine Antwort darauf fand Autor Jo Goll während seiner Nachforschungen zum Werdegang von Ayhan Sürücü: "Der Ayhan zum Beispiel ist auf eine Schule gegangen, in die kein deutsches Kind zu diesem Zeitpunkt mehr ging. Der Schulleiter hat damals gesagt: Ich würde deutschen Eltern nicht empfehlen, ihre Kinder in meiner Schule anzumelden. Das lässt natürlich sehr tief blicken, wo die Versäumnisse auch in dieser sogenannten Mehrheitsgesellschaft liegen. Wir haben es 40 Jahre zugelassen, dass es solche Dinge gibt. Und da gilt es, glaube ich schon, einfach gegenzusteuern."