Zehn Runden ohne Sieger: Schach-WM vor dem Finale
22. November 2018"Ich bin dann auf einmal ein wenig durchgedreht." Ein geschockt wirkender Magnus Carlsen konnte nicht fassen, dass er am Ende in dieser zehnten Runde fast sogar noch verloren hätte. Auf jeden Fall wird diese zehnte Partie als eine der spannungsreichsten Remis-Partien in die WM-Geschichte eingehen. Beide Spieler traten einmal mehr mit offenem Visier an, um nach neun Remis in Serie endlich einen Sieg zu erzielen - am Ende gab es dennoch nur ein weiteres heftig umkämpftes Unentschieden. Den beiden aktuell besten Schachspielern der Welt bleiben jetzt noch gerade einmal zwei Partien mit klassischer Bedenkzeit, um die WM für sich zu entscheiden.
Angriff und Gegenangriff
Wie schon in der achten Partie trat Fabiano Caruano der "Sizilianischen Verteidigung" des Weltmeisters mit einer "offenen", also sehr aktiven Spielweise entgegen. "Wir haben beide sehr zweischneidig gespielt und dabei viel Risiko in Kauf genommen", sagte der US-Amerikaner nach der Partie. Denn auch der Weltmeister legte früh den Vorwärtsgang ein. Mit Erfolg: Schnell zeigte sich, dass Carlsen diesmal besser aus der Eröffnung gekommen war und den König seines Gegners attackieren konnte. Als der norwegische Titelverteidiger dann auch noch einen überraschenden Bauernzug am Damenflügel spielte, sah es so aus, als ob der langersehnte Sieg für ihn diesmal in Reichweite liegen würde.
Es folgte eine nervenaufreibende Phase auf höchstem Niveau: die Zeit auf beiden Uhren lief ab, die Stellungsbewertungen der Computerprogramme schwankten von Zug zu Zug hin und her - und die Spieler balancierten ständig zwischen Sieg und Niederlage. Doch rund um die Zeitkontrolle im 40. Zug zeigte sich, dass es Fabiano Caruana einmal mehr geschafft hatte, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. "Das war heute ein Fall von zu viel Nachdenken", lautete der Erklärungsversuch von Carlsen, der zuvor mehrere gewinnversprechende Möglichkeiten ausgelassen hatte. Stattdessen fanden sich die Spieler einmal mehr in einem komplexen, aber fast ausgeglichenen Endspiel mit jeweils zwei Türmen wieder. Hier versuchte der Weltmeister noch einmal, Druck aufzubauen. Dies erwies sich jetzt allerdings als übermotiviert: Als Carlsen mit seinem König ins gegnerische Lager vordrang, startete Caruana sogar noch einen Gegenangriff. Nur mit knapper Not rettete sich der Weltmeister in eine Remisstellung.
Yu Wenjun bleibt Frauen-Weltmeisterin
Während es in London nach zehn Unentschieden 5:5 steht, zeigen die Frauen, dass Schachpartien nicht nur Remis ausgehen können. Im russischen Khanty-Mansijsk fand zeitgleich - und vergleichsweise wenig beachtet - die Frauen-WM statt. Im Finale saßen sich dort die chinesische Titelverteidigerin Yu Wenjun und die Russin Katerina Lagno gegenüber. Dabei gelang Yu Wenjun das Kunststück, in der letzten Partie mit Schwarz noch einen Rückstand aufzuholen und das Match auszugleichen. Die Siegerin wurde in einem dramatischen Schnell- und Blitzschach-Stichkampf ermittelt. Am Ende hatte Yu Wenjun die Nase vorne und behält den WM-Titel. Schach mit verkürzter Bedenkzeit könnte auch in der kommenden Woche bei Magnus Carlsen und Fabiano Caruano die Entscheidung bringen - bis dahin warten in London auf die Schachwelt noch zwei spannende Partien über die lange Distanz.