Schach-WM: Was ist los mit Carlsen?
20. November 2018Seit 2013 holte er alle Weltmeister-Titel, er ist die Nummer eins in der Weltrangliste und gilt als einer besten Schachspieler aller Zeiten: Magnus Carlsen ist gerade einmal 27 Jahre alt, aber so glanzvoll wie noch vor einigen Jahren verläuft seine Schachkarriere nicht mehr. Auch aktuell in London bei seiner dritten Titelverteidigung tut sich der Norweger schwer - bisher endeten alle Partien gegen Herausforderer Fabiano Caruana aus den USA mit einem Unentschieden.
Schon im Vorfeld hatte der deutsche Schach-Bundestrainer Dorian Rogozenco im DW-Interview die Form des Weltmeisters in Frage gestellt: "Magnus Carlsen hat es nicht ganz geschafft, in den letzten Partien seine Bestform zu erreichen. Deswegen würde ich sogar Caruana als Favorit etwas bevorzugen." Was ist also los mit Magnus Carlsen? Das fragen sich nicht nur die Schachfans - auch der früher oft als "Mozart des Schach" titulierte Champion scheint eine Antwort zu suchen.
1. Schach ist Kopfsache – die Angst vor der Niederlage hemmt
Ist er nicht bereit loszuschlagen, wenn sich eine Chance bietet? Eine Frage, die ein Weltmeister mitten im Titelkampf nicht gerne hört. Und Carlsen blieb dem Journalisten nach der kraftlos geführten siebten Partie die Antwort auch schuldig. Dabei hatte er kurz zuvor schon einen Einblick in sein Seelenleben gegeben: "An einem anderen Tag, in einem anderen Jahr, hätte ich vielleicht einen Weg gefunden, mehr Druck zu machen", gab der Weltmeister zu.
Offensichtlich ist, dass Magnus Carlsen das Siegen nicht mehr so leicht fällt wie zu Anfang seiner Zeit als Weltmeister. Dabei verliert Carlsen immer noch sehr wenige Partien, doch die Überlegenheit, mit der er eine Zeit lang die besten Schachspieler reihenweise überspielte ist aktuell nicht mehr vorhanden. Ohne diese Sicherheit im Hinterkopf geht Carlsen zu wenig Risiko ein. Er vermeidet so zwar Niederlagen, gewinnt aber auch weniger. Ein Teufelskreis.
2. Die Carlsen-Methode funktioniert nicht mehr
Ein fast schlafwandlerisches Gespür dafür, wo die Figuren auf den 64 schwarz-weißen Feldern am besten stehen, verbunden mit einem großen Kampfgeist - das zeichnet die Spielweise des Norwegers aus. Magnus Carlsen setzt nicht auf totalen Angriff, sondern liebt Stellungen, die nur ein klein wenig aus der Balance geraten sind. Zug für Zug verbessert er dann seine Position bis er einen siegbringenden Vorteil auf dem Brett hat.
Das Problem: Inzwischen haben sich seine Gegner auf diesen Stil eingestellt. Wer gegen Carlsen spielt, der weiß, dass er lange unter Druck gesetzt werden wird - friedliche Kurz-Unentschieden gibt es mit dem Norweger nach wie vor nicht. Doch wie beim Fußball lässt die Wirkung dieses "Tiki-Taka-Stils" nach. Zumindest Fabiano Caruana lässt sich dadurch bisher in London nicht aus dem Konzept bringen.
3. Carlsens erste Züge sind zu harmlos
Damengambit, Rossolimo oder Russisch? Magnus Carlsen und sein Team legen vergleichsweise wenig wert auf die Eröffnungsvorbereitung - also die ersten Züge, die in der Schach-Szene oft mit eigentümlichen Namen versehen werden. Carlsen strebt nicht unbedingt an, einen Vorteil durch das Austüfteln immer neuer Varianten zu erzielen. Vielmehr versucht der Weltmeister vor allem mit den weißen Steinen möglichst eine dieser typischen "Carlsen-Positionen" zu bekommen - vermeintlich ausgeglichen, aber mit ein wenig Potenzial.
Fabiano Caruana hat sich bestens auf diese Spielweise eingestellt. Viele Experten wie zum Beispiel der Ex-Weltmeister Gary Kasparow sind der Meinung, dass Carlsen sich aber dringend in der Eröffnung verbessern muss. Ob das allerdings bei dieser WM noch möglich ist darf bezweifelt werden.
4. Caruana ist einfach gut
Der Spruch gilt auch im Schach: "Man spielt so gut, wie es der Gegner zulässt." In den vergangenen Jahren sind eine Reihe Spieler in die Weltspitze aufgestiegen, die wie Magnus Carlsen ihr Leben lang mit Computern trainiert haben und ähnlich eingestellt sind wie der Weltmeister.
Fabiano Caruana ist der kompletteste Spieler in dieser Gruppe von Herausforderern. Doch zum Beispiel auch Shakhriyar Mamedyarov aus Aserbaidschan hat sich in den vergangenen Jahren in der Weltspitze etabliert und ist dem Norweger mittlerweile gewachsen.
Die Verfolger spielen ein sehr aktives, für die Fans attraktives Schach und sind so in Weltrangliste nah an Carlsen herangerückt. Und das im Vergleich zu Carlsen aktivere Eröffnungsrepertoire haben sie auch.
5. Carlsen hat immer noch alles im Griff
Auch wenn Magnus Carlsen sich zuletzt eher als "Hamlet des Schach", denn als "Mozart des Schachs" präsentierte: Das Duell mit Fabiano Caruano steht nach elf Runden 5,5:5,5. Mit Ausnahme der sechsten und achten Partie war der Herausforderer eher noch weiter von einem vollen Punkt entfernt als der leicht kriselnde Carlsen.
Hinzu kommt: Magnus Carlsen kennt die Anspannung in den letzten Runden aus den vergangenen knappen Titelkämpfen. Sollte die Remis-Serie bis zur zwölften Partie andauern, dann ist Carlsen im Vorteil. Mit verkürzter Bedenkzeit spielt der Norweger besonders stark und Fabiano Caruana (bisher zumindest) vergleichsweise schwach. Dann heißt es möglicherweise doch wieder: Matchball Carlsen.