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Politik

Kindesmissbrauch unter den Augen der Behörden

15. Juni 2020

Was als Versuch begann, setzte sich Jahrzehnte lang fort: Unter Beteiligung von Berliner Ämtern wurden Heimkinder laut einer Studie bewusst bei Päderasten in Pflege gegeben, um sie von diesen Männern erziehen zu lassen.

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Symbolbild Pädophilie
SymbolbildBild: Imago Images/Panthermedia/Gelpi

In das sogenannte Kentler-Experiment sind laut einer Studie mehr Personen verwickelt gewesen als bislang bekannt. Eine in Berlin vorgestellte Studie spricht von einem Netzwerk, das auch in Westdeutschland existiert habe. Bei der Untersuchung handelt es sich um den Abschlussbericht der Hildesheimer Universität, die vom Berliner Senat beauftragt worden war, das Wirken des umstrittenen Psychologen und Sexualwissenschaftlers Helmut Kentler (1928-2008) in der Berliner Kinder- und Jugendhilfe seit Ende der 1960er Jahre zu untersuchen.

Pädophile Positionen verteidigt

Demnach ist es in der Verantwortung der früheren West-Berliner Kinder- und Jugendhilfe bei der behördlichen Vermittlung von Pflegekindern zu sexuellem Kindesmissbrauch gekommen. In den 1970er Jahren habe es in der für Jugend zuständigen Senatsverwaltung und in einzelnen Berliner Bezirksjugendämtern ein Netzwerk gegeben, in dem pädophile Positionen akzeptiert und verteidigt worden seien, heißt es in dem Ergebnisbericht.

Erwähnt werden darin das Pädagogische Zentrum Berlin, das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, die Freie Universität und das Pädagogische Seminar Göttingen. Außerdem lassen sich Verbindungen nachweisen zwischen dem Pädagogischen Zentrum in Berlin, an dem Kentler wirkte, und der Odenwaldschule in Hessen, die nach Bekanntwerden des dortigen Missbrauchsskandals 2015 schließen musste.

Täter in mächtiger Position

Im Rahmen des sogenannten Kentler-Experiments waren Jugendliche bewusst an pädophile Pflegeväter vermittelt worden. Kentler begründete das Projekt damit, dass die Jugendlichen unter dem Einfluss der Männer sozial gefestigt würden. Laut einem Zwischenbericht aus dem vergangenen Jahr begann die Praxis Ende der 1960er Jahre und endete Anfang der 2000er Jahre.

Laut dem jetzt vorliegenden Abschlussbericht verdichten sich die bisherigen Hinweise, "dass es sich bei diesen Pflegestellen um allein lebende, mitunter mächtige Männer aus Wissenschaft, Forschungseinrichtungen und anderen pädagogischen Kontexten gehandelt hat, die pädophile Positionen auch gelebt haben". Mitarbeiter der Jugendämter und der Senatsverwaltung seien Teil dieses Netzwerks gewesen und hätten den Päderasten Zugang zu jungen Männern und Kindern verschafft, heißt es weiter.

Wenig Bereitschaft zur Aufklärung der Vorfälle

Kentler war laut den Angaben in den 1960er und 1970er Jahren Abteilungsleiter am Pädagogischen Zentrum Berlin und anschließend Professor für Sozialpädagogik an der Technischen Universität Hannover. Ein erstes Gutachten zum sogenannten Kentler-Experiment wurde im Auftrag der Senatsverwaltung durch das Göttinger Institut für Demokratieforschung erstellt und 2016 veröffentlicht. Die Wissenschaftler attestierten der Senatsbildungsverwaltung einen mangelnden Aufklärungswillen.

Auch der aktuelle Bericht endet mit einem Appell an die Verantwortlichen, die Aufklärung fortzusetzen. Die Jugend- und Familienministerkonferenz müsse sich genauso damit befassen wie die betroffenen Fachverbände und wissenschaftliche Organisationen von Sozialpädagogik, Erziehungswissenschaft und Psychologie.

Opfer fordern Schadensersatz

Und die Betroffenen? Zwei der Opfer fordern Schadensersatz vom Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg. Strafrechtlich sind die Fälle längst verjährt. Im vergangenen März erklärte eine Sprecherin der Senatsverwaltung, es werde zielgerichtet daran gearbeitet, "dass es eine Lösung gibt, die den Interessen der Betroffenen gerecht wird".

uh/rb (kna, epd)