"Politik neigt zu Erziehungsmaßnahmen"
18. November 2021"Die Stimmung ist trübe und die Situation ist sehr ernst." Der Satz klingt wie eine Zustandsbeschreibung der aktuellen Corona-Lage in Deutschland. Er könnte von Lothar Wieler stammen, Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI) und Überbringer der täglich dramatisch ansteigenden Infektionszahlen. Gesagt hat das aber Dirk Neubauer, Bürgermeister des Städtchens Augustusburg in Sachsen.
Wo sich weniger impfen lassen und mehr AfD wählen
Er ist Gast auf der Herbsttagung des Bundeskriminalamtes (BKA) in Wiesbaden. Titel der zweitägigen Veranstaltung: "Stabilität statt Spaltung: Was trägt und erträgt die Innere Sicherheit". Auch der Rathauschef aus Sachsen spricht über das Thema, an dem in diesen Zeiten niemand vorbeikommt: Corona. Beim Stichwort Impfverweigerer wird er sehr grundsätzlich: "Wir sind so weit, dass sich die Gräben vertiefen."
Wenn er "wir" sagt, meint der 50-Jährige wirklich alle. Er wehrt sich gegen die aus seiner Sicht einseitige Stigmatisierung seiner Landsleute in Sachsen, wo die Impfquote so niedrig ist wie nirgends sonst in Deutschland. Und wo die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) ihre Hochburg hat. "Ich spreche mit jedem, der in der Lage ist, den Ton zu halten", sagt Neubauer. Er habe aber auch schon Gespräche abgebrochen, schiebt er hinterher. Soll heißen: Unter den rund 4000 Einwohnern in Augustusburg gibt es auch Unbelehrbare.
Politiker und Buch-Autor: "Rettet die Demokratie!"
Wichtig sei aber, Angebote zu machen, betont der Kommunalpolitiker. "Man wird Menschen nicht durch Ausgrenzung wieder an den Tisch bekommen." Der Mann muss es wissen, denn bei ihm kann sich jeder einen Termin buchen. Und der Redebedarf ist groß. "Die meisten machen ihr Kreuz bei der AfD aus Frust und Enttäuschung." Das ist jedenfalls sein Eindruck, wenn er die Augustusburger über die Politik im fernen Berlin oder in der sächsischen Landeshauptstadt Dresden reden hört. Dann fühlen sie sich oft pauschal in die rechte Ecke gedrängt.
Über seine Erfahrungen hat der Ostdeutsche Dirk Neubauer schon zwei Bücher geschrieben: "Das Problem sind wir" und "Rettet die Demokratie!". Auf der BKA-Tagung in Wiesbaden - tief im Westen Deutschlands - redet der ehemalige Journalist über seine Sicht der Dinge. Manches hat das Potenzial, Titel für ein drittes Buch über das Thema gespaltene Gesellschaft zu werden: "Politik neigt zu Erziehungsmaßnahmen" ist so eine pointierte Formulierung. Damit ist auch die abgewählte, aber noch geschäftsführende Bundeskanzlerin Angela Merkel gemeint.
Das Gefühl, "Bürger zweiter Klasse" zu sein
Neubauers Auftritt beim Bundeskriminalamt unterscheidet sich deutlich von den Beiträgen der vielen Experten, die in Wiesbaden ansonsten den Ton angeben. Da redet einer ohne Manuskript, trägt keine Powerpoint-Präsentation vor - sondern schildert die Wirklichkeit, wie er sie in seiner Heimatregion erlebt.
Die Anderen analysieren mit wissenschaftlichen Methoden, warum Deutschland so tief gespalten zu sein scheint.
Fachleute wie Carsten Reinemann erklären sich diese Entwicklung mit dem massiv gesunkenen Vertrauen in politische Institutionen. Der Münchener Kommunikationswissenschaftler kommt in Studien über Impfskeptiker zu dem Befund, dass sich viele von ihnen als "Bürger zweiter Klasse" fühlen und kaum traditionelle Medien nutzen. Eine wichtige Rolle gegen Desinformation im Internet attestiert er den öffentlich-rechtlichen Medien. Zugleich nimmt Reinemann aber Social-Media-Plattformen gegen den pauschalen Vorwurf in Schutz, Filterblasen und Echokammern für Extremisten jeglicher Form zu sein.
Der BKA-Präsident sieht keine Spaltung - "noch nicht"
Nicole Deitelhoff von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung geht noch einen Schritt weiter: "Die Polarisierung der Gesellschaft ist weniger dramatisch als vielfach behauptet." Das Gros der Bevölkerung sei nicht gespalten. Als Beleg dienen der Expertin auch die sinkenden Teilnehmerzahlen auf "Querdenker"-Demonstrationen. Im Falle eines weiteren Lockdowns rechnet sie allerdings wieder mit mehr Protesten. "Der harte Kern der Querdenker wird dann wahrscheinlich weiter ins rechte Lager abdriften."
Das vermutet auch der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA) und Gastgeber der Tagung, Holger Münch. Protest sei etwas Normales, auch Polarisierung sei "völlig normal". Damit müsse man rechnen, sagt er auf DW-Nachfrage. Als Spaltung will er die Situation in Deutschland nicht bezeichnen - "noch nicht". Denn man müsse sehr stark an den Rändern aufpassen, "dass dort nicht Radikalisierung stattfindet und am Ende auch neue Formen von Extremismus und Gewalttaten entstehen".
Bundespräsident Steinmeier warnt vor Radikalisierung
Mit Sorge beobachtet der BKA-Chef die voranschreitende Vernetzung in extremistischen Milieus generell. Dazu zählen auch militante Corona-Leugner. "Wir müssen sehr stark im Netz unterwegs sein", nennt Holger Münch einen Schwerpunkt seiner Strategie gegen Hass und Hetze im Internet. "Diese ganzen Einschüchterungsstrategien müssen wir intensiv bekämpfen", sagt er als einer der ranghöchsten deutschen Polizeibeamten.
Münchs Entschlossenheit ist ganz im Sinne des Bundespräsidenten, der zu Beginn der BKA-Tagung per Video ein Grußwort von Berlin nach Wiesbaden gesendet hat. Auch Frank-Walter Steinmeier sorgt sich wegen der zunehmenden Radikalisierung im Bereich der "Querdenker" und Corona-Leugner. "Verschwörungsglaube, oft gepaart mit blankem Antisemitismus, bereitet den Boden für Angriffe auf Medien, Impfärzte und Wissenschaftler, für ein Klima der Spaltung und Hetze."
Nicht nur eine Frage von Ost und West
Wie tief der Graben in der deutschen Gesellschaft nun aber tatsächlich ist und welche Rezepte für mehr Gemeinsinn am besten sind, darüber gibt es nach zwei intensiven Tagen in Wiesbaden keine alle zufriedenstellende Antwort. Dafür sind die Blickwinkel zu verschieden - was nicht nur eine Frage zwischen Ost und West ist.