Die einen schwadronieren von einer Corona-Diktatur, die anderen werfen alle Impfskeptiker in einen Topf mit absolut uneinsichtigen "Querdenkern". Beides ist Unsinn und lässt jene kopfschüttelnd zurück, die mehr sehen als Schwarz und Weiß. Aber darauf kommt es an, wenn über die auch COVID-19 genannte Krankheit geredet wird: die vielen anderen Farben ebenfalls wahrzunehmen. Man muss schon bereit sein, sich auf andere Argumente und Gefühle einzulassen, als nur die eigenen. Sonst kommt kein Dialog zustande.
Die Wirklichkeit sieht aber leider oft anders aus: zunehmende Ablehnung, Ignoranz, Diffamierung - kurzum: verhärtete Fronten. Je höher die täglichen Fallzahlen in Deutschland - Infektionen, belegte Intensivbetten, Tote - desto aggressiver und unversöhnlicher der Tonfall. Dabei lehrt die Pandemie seit ihrem Beginn doch vor allem eines: Absolute Gewissheiten gibt es auch bei Corona keine.
Zweifel an der Corona-Politik ernst nehmen
Weder Wissenschaft noch Politik haben zu irgendeinem Zeitpunkt mit einer Zunge gesprochen - national wie international. Alle lernen täglich dazu, machen Fehler, ziehen daraus Konsequenzen. Ob die richtig oder falsch sind, stellt sich oft erst viel später heraus. Besserwisserei ist in den meisten Fällen fehl am Platze. Kritik und Selbstkritik - darauf kommt es an. Aber bitte konstruktiv und kultiviert!
Das mag ein naiver Wunsch sein und vielleicht auch bleiben. Und wer nie an einem fairen Umgang miteinander interessiert war, hat sich sowieso selbst disqualifiziert. Aber es wäre einen Versuch wert, sich um die vielen Zweifler zu bemühen. Die verunsichert sind durch Studien über gefährliche Nebenwirkungen von Impfstoffen, unausgegorene Entscheidungen rivalisierender Politiker, umstrittene Empfehlungen hochrangiger Kommissionen.
Pauschale Wut auf Ungeimpfte ist einseitig und unfair
Diese Vielen darf man dann aber nicht einseitig an den Pranger stellen und ihnen ein schlechtes Gewissen einreden, sie allein seien schuld am Elend auf den Intensivstationen. Denn Betten gibt es dort derzeit noch genug, viele können aber nicht belegt werden, weil Personal fehlt. Für die sich wieder dramatisch zuspitzende Situation sind auch Andere als Ungeimpfte verantwortlich: profitorientierte Unternehmen in der Gesundheitsindustrie, eine primär auf Wettbewerb setzende Politik und eine faire Bezahlung verweigernde Arbeitgeber - private und öffentliche.
Manche sind vielleicht auch deshalb wütend auf die Ungeimpften, weil sie einer Illusion erlegen sind: Denn auch die in kürzester Zeit entwickelten Impfstoffe haben - wie gerade schmerzvoll zu beobachten ist - nur eine Verschnaufpause gebracht. Die Wirksamkeit lässt schneller nach, als alle hofften. "Booster" ist das Wort und für viele zugleich das Gebot der Stunde. Und während in Deutschland und anderen wohlhabenden Ländern der Run auf die Auffrischungsspritze in vollem Gange ist, bleiben Milliarden ungeimpfte Menschen in ärmeren Weltregionen völlig ungeschützt.
Impfegoismus gefährdet am Ende alle
Dieser Skandal ist in der deutschen Nabelschau fast komplett aus dem Blickfeld geraten. Deshalb sei an die mahnenden Worte des Generalsekretärs der Vereinten Nationen (UN), António Guterres, erinnert: Ärmeren Ländern Corona-Impfstoffe vorzuenthalten und damit eine gerechte Verteilung zu verhindern ist "nicht nur eine Frage der Unmoral, es ist auch eine Frage der Dummheit". Von diesem berechtigten Vorwurf dürfen sich alle in Deutschland angesprochen fühlen.
Dringlichste Aufgabe von Politik und Wirtschaft ist es, diese himmelschreiende Ungerechtigkeit endlich wirksam zu bekämpfen. Dabei darf auch die Freigabe von Impfpatenten kein Tabu mehr bleiben. Und für einen größeren gesellschaftlichen Konsens in Deutschland ist mehr gegenseitiges Verständnis unverzichtbar. Zum Beispiel durch die Einsicht, sich im Interesse von und aus Solidarität mit allen Menschen auf Intensivstationen trotz Bedenken doch impfen zu lassen. Wer sich dazu nicht durchringen kann, darf dafür aber nicht bestraft werden. Ein Lockdown für Ungeimpfte wie in Österreich wäre eine unverzeihliche Grenzüberschreitung.