Polen: Hochprozentiges in Miniflaschen und Saftbeuteln
22. Oktober 2024Ende September kamen in Polen Getränkebeutel aus Plastik in den Handel, die aussehen wie Fruchtmousse für Kinder und Jugendliche: Buntes Design, handliche Größe. Der Inhalt? Alkohol, genauer: Fruchtliköre in Form von Mousse und Wodka.
Die Ähnlichkeit mit alkoholfreier Fruchtmousse oder Säften für Kinder, wie er in vielen Supermärkten angeboten wird, war so groß, dass ein Geschäft ein Pappregal für echte Säfte des beliebten polnischen Herstellers Tymbark verwendete, um die alkoholischen Getränke auszustellen.
Ein Foto der trügerischen Getränkebeutel wurde über X (Twitter) und Facebook verbreitet und ging viral. Es löste eine Welle von Kommentaren aus: Wird Alkohol in dieser Form verharmlost? Werden Kinder und Jugendliche, die Säfte kaufen wollen, durch die bunten Beutel zum Alkoholkonsum verführt?
Obwohl der Verkauf von Alkohol an unter 18-Jährige in Polen verboten ist, reagierten auch Politiker und kritisierten die Getränkebeutel. "Das wird bei uns nicht durchgehen", erklärte Regierungschef Donald Tusk.
Gut sichtbar und überall verfügbar: Miniflaschen
"Als ich das Foto mit den Beuteln sah, bin ich erstarrt", sagt Krzysztof Daukszewicz, Stadtverordneter des Warschauer Bezirks Ursus im Gespräch mit der DW. Die Plastikbeutel machten es den Menschen einfacher, unbemerkt Alkohol zu kaufen und zu konsumieren. Ähnlich wie die "Malpki" genannten Miniflaschen, die zwischen 100 und 200 Milliliter Spirituosen fassen.
Die Malpki werden in den in Polen beliebten Minimärkten gut sichtbar angeboten. Aufgrund ihrer geringen Größe sind sie leicht zu transportieren und bieten Alkoholabhängigen einen diskreten und bequemen Zugang zu ihrem Suchtmittel. Täglich werden in Polen über eine Million dieser Fläschchen verkauft, vor allem in den Morgenstunden.
"Es gibt bereits ein großes Problem mit den Malpki", sagt Daukszewicz. "Ich finde sie jeden Tag auf Bänken, an Bushaltestellen, in Blumentöpfen. Jetzt könnten auch noch die Spielplätze hinzukommen, denn meiner Meinung nach sind die Alkohol-Beutelchen ein Produkt, das auf Eltern abzielt, die Alkoholiker sind."
Vier bis fünf Millionen Polen trinken
Das Institut für Gesundheit der Polnischen Akademie in Tschenstochau schätzt die Zahl der Alkoholabhängigen und der exzessiven Trinker auf vier bis fünf Millionen ein. Etwa eine Million Menschen seien behandlungsbedürftig alkoholkrank. Nur 15 Prozent von ihnen würden behandelt.
"Immer mehr Alkoholabhängige in Polen sind so genannte hochfunktionelle Alkoholiker, die ihre Sucht lange Zeit verbergen können", sagt die Suchttherapeutin Dr. Katarzyna Iwanicka. "Noch vor 15 Jahren sah das Patientenprofil wie folgt aus: ein Mann im Alter von 45-55 Jahren, verheiratet, Sekundarschulabschluss, alkoholabhängig", erklärt sie. "Heute dagegen kommen immer mehr jüngere Menschen in die Therapiepraxen."
Und das, obwohl die Zahl jüngerer Alkoholiker insgesamt zurückgeht. Dafür nimmt die Zahl der trinkenden Frauen zu. "Oft ist das Verhältnis von Frauen zu Männern in der Gruppentherapie 50:50", so Iwanicka.
Von Wodka zu Bier
In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die Art und Weise, wie die Polen Alkohol trinken, verändert. In der Zeit des Kommunismus hatten sie Wodka bevorzugt. In den 1990er Jahren wechselten sie zu niedrigprozentigen Spirituosen wie Bier und Wein. Heute sind leichte Biere mit weitem Abstand das am meisten konsumierte alkoholische Getränk.
Das heißt aber nicht, dass die Polen unterm Strich heute weniger Alkohol trinken. "Im Jahr 2022 wurden hier 9,3 Liter reiner Alkohol pro Kopf getrunken, im Vergleich zu 6,6 Litern im Jahr 2001", sagt die Suchtexpertin Iwanicka.
Insgesamt liegt das Land beim Alkoholkonsum nach Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Europa über dem europäischen Durchschnitt. Für das Jahr 2019 hat er für Polen einen Konsum von 11,6 Liter Alkohol pro Kopf festgestellt. Zum Vergleich: 12,2 Liter trinkt ein Deutscher pro Jahr, der europäische Durchschnitt liegt bei 9,2.
Seit den 1990er Jahren haben sich auch neue Alkoholsorten etabliert wie Apfelschaumwein oder selbstgebrautes "Craft"-Bier. "In letzter Zeit wurde der Markt auch von nullprozentigen Bieren erobert", berichtet Iwanicka. Die enthielten zwar keinen Alkohol, aber sie trügen zum Aufbau einer Trinkkultur bei.
Intensive Werbung und gesellschaftlicher Druck
Kein Alkohol zu trinken, gilt in der polnischen Gesellschaft immer noch als Kuriosität. Diese Erfahrung machte kürzlich die 43-jährige Anna aus Warschau bei einer Betriebsfeier: "Auf der Party bestellte ich ein alkoholfreies Getränk. Meine Kollegen fragten, was los sei, und ich sagte, dass ich einfach kein Bedürfnis mehr habe, zu trinken. Sie konnten es nicht glauben, es gab seltsame Witze und die Bemerkung, dass sie mich vielleicht nicht mehr einladen würden."
Wie in Deutschland gehört Bier auch in Polen bei Partys im Freundeskreis oder in der Familie immer dazu. Beim Grillen und bei Feiern wird getrunken. Bierwerbung ist mit Einschränkungen erlaubt; Werbung für andere alkoholische Getränke ist zwar gesetzlich verboten, wird aber im Internet verbreitet, wo sie schwieriger zu verfolgen ist.
Auch indirekt wird für Alkohol geworben, zum Beispiel mit verlockenden Angeboten und niedrigen Preisen. So boten die Supermarktketten Biedronka und Lidl im Februar 2024 einen halben Liter Wodka für 9,99 Zloty (2,32 Euro) an. Doch auch ohne Sonderangebote ist der Alkohol in Polen relativ preiswert.
Alkohol ist überall zu kaufen
Suchtexperten kritisieren vor allem die permanente Verfügbarkeit von alkoholischen Getränken. Vor allem am Abend und in der Nacht kann man Alkohol mancherorts leichter kaufen als Brot. Viele Minimärkte in Polen arbeiten bis spät in der Nacht, manche auch im 24-Stunden Betrieb. Nach Mitternacht kann Alkohol zudem an Tankstellen gekauft werden.
Die lokalen Behörden versuchen, die Zugänglichkeit von Alkohol zu begrenzen, indem sie den nächtlichen Verkauf verbieten. Im südpolnischen Krakau etwa sprachen sich die Einwohner in einer kürzlich durchgeführten öffentlichen Anhörung für ein derartiges Nachtverkaufsverbot aus.
"Es sind gesetzliche Änderungen erforderlich, vom Verbot des Verkaufs von Miniflaschen bis hin zu nächtlichen Verkaufsbeschränkungen", meint auch der Warschauer Stadtverordnete Daukszewicz. Nach Ansicht von Suchtspezialistin Dr. Iwanicka sollte eine höhere Besteuerung auch von alkoholarmen Getränken in Betracht gezogen werden: "Psychologische Aufklärung sowie aufzuzeigen, dass es so etwas wie eine sichere Dosis Alkohol nicht gibt, sind ebenfalls wichtig."
Auch die polnische Regierung hat das Problem erkannt. Gesundheitsministerin Izabela Leszczyna wollte den Verkauf von Alkohol an Tankstellen sogar verbieten. Jüngsten Medienberichten zufolge wird diese Forderung jedoch ebenso wie einige andere Einschränkungen an Widerständen innerhalb der Regierungskoalition scheitern.
Eine radikale Gesetzesänderung ist also nicht in Sicht. Immerhin: der Verkauf der bunten Alkoholbeutel löste unter Politikern aller Lager einen Aufschrei aus. Dies führte dazu, dass der Hersteller sie schnell wieder zurückzog und sich sogar entschuldigte. Dabei unterstrich er jedoch, das er gegen kein Gesetz verstoßen habe.