Ein schrecklicher Jahrestag
4. November 2016Diese Mordserie hielt Ermittler deutschlandweit in Atem - und ließ sie verzweifeln, weil es keine heiße Spur gab. Wer steckte hinter dem Tod von neun Männern, die zwischen 2000 und 2006 mit derselben Waffe erschossen wurden? Von "Döner-Morden" war leichtfertig und respektlos die Rede, weil fast alle Opfer türkische Wurzeln hatten. Dass es sich um rassistisch motivierte Taten handeln könnte, spielte in den Überlegungen der Polizei kaum eine Rolle. Von Racheakten im Mafia- und Drogenmilieu war die Rede, sogar Angehörige der Toten wurden verdächtigt. Umso größer war das Entsetzen, als die wahren Hintergründe bekannt wurden.
Vor fünf Jahren, am 4. November 2011, brannte kurz nach einem missglückten Banküberfall in Eisenach ein Wohnmobil aus. Im Schutt des Fahrzeugs wurden zwei Leichen entdeckt: Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos. Die beiden Rechtsextremisten waren 1998 gemeinsam mit Beate Zschäpe untergetaucht und lebten fast 14 Jahre unentdeckt im Untergrund. Während sich die Männer das Leben nahmen, um nicht verhaftet zu werden, steckte ihre Komplizin in Zwickau die gemeinsam genutzte Wohnung in Brand, verschickte Bekennervideos an Medien und stellte sich der Polizei.
Von Beate Zschäpe ist keine Aufklärung zu erwarten
Seit Mai 2013 muss sich Zschäpe als Hauptangeklagte im NSU-Prozess vor dem Münchener Oberlandesgericht verantworten. Wegen zehnfachen Mordes, denn auch die Polizistin Michèle Kiesewetter wurde mutmaßlich von den Rechtsextremisten erschossen. Ihr Tod gilt als besonders rätselhaft, weil er nicht in das Raster Fremdenhass passt. Das ist aber nur eine von vielen offenen Fragen, die es im Zusammenhang mit dem NSU gibt. Fünf Jahre nach seinem Auffliegen sind die Zweifel größer denn je, dass diese unheimliche Mordserie jemals vollständig aufgeklärt wird.
Zwar hat Zschäpe im Dezember 2015 ihr langes Schweigen gebrochen, sie will mit den Morden aber nichts zu tun haben. Stattdessen bezichtigte sie ihre toten Freunde, die Taten ohne ihr Wissen oder gar Mitwirken begangen zu haben. Die Hoffnungen der Opfer-Angehörigen hat die Hauptangeklagte mit ihrer von einem Anwalt verlesenen Aussage massiv enttäuscht. Das gilt ganz überwiegend auch für die vier Männer aus dem rechtsextremistischen Umfeld des NSU-Trios, die wegen Beihilfe zum Mord vor Gericht stehen.
Verfassungsschutz: geschredderte Akten, tote V-Leute
Enttäuscht sind die Hinterbliebenen aber auch vom ihres Erachtens fehlenden Aufklärungswillen der Bundesanwaltschaft und der Sicherheitsbehörden. So wurden wenige Tage nach dem Auffliegen des NSU Akten des Verfassungsschutzes mit Bezug zur Terrorgruppe vernichtet. Mehrere V-Leute des deutschen Inlandsgeheimdienstes starben unter teilweise ungeklärten Umständen. Beweisanträge der Nebenkläger, gesperrte Ermittlungsakten in den Prozess einzuführen oder weitere Zeugen zu laden, werden fast immer abgelehnt. All das lässt die Opfer-Angehörigen vermuten, die Sicherheitsbehörden wüssten mehr, als sie behaupten.
Dass der Staat auf ganzer Linie versagt hat, ist das selbstkritische Eingeständnis zahlreicher parlamentarischer Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern. Anfang Oktober haben Carsten Ilius und drei weitere Nebenkläger-Anwälte sogar Strafanzeige gegen den Verfassungsschutz gestellt - wegen Strafvereitelung und Urkundenunterdrückung. Ilius ist nach dreieinhalb Jahren NSU-Prozess vor allem "wütend". Auf Seiten der Behörden gebe es "kein ernsthaftes Aufklärungsbemühen", sagte der Berliner Anwalt kurz vor dem fünften Jahrestag der NSU-Enttarnung. Vor dem Oberlandesgericht in München vertritt er die Interessen von Elif Kubaşik, deren Mann Mehmet Kubaşik 2006 in Dortmund in seinem Kiosk erschossen wurde.
Die Opfer-Angehörigen sind von Merkel enttäuscht
Heftige Kritik übt der Anwalt an Bundeskanzlerin Angela Merkel, die bei der Trauerfeier für die NSU-Opfer versprochen hatte, alles zu tun, "um die Morde aufzuklären". Daran würden alle zuständigen Behörden mit "Hochdruck" arbeiten, sagte Merkel im Februar 2012. Davon kann aus Ilius' Sicht keine Rede sein. Er erwartet von der Kanzlerin, im Rahmen ihrer Richtlinienkompetenz Druck auf Justiz- und Innenministerium auszuüben. Davon verspricht sich Ilius mehr Bewegung im NSU-Prozess. Dass es dazu kommt, ist unter dem Eindruck der vergangenen fünf Jahre aber höchst unwahrscheinlich.
Das Interesse der meisten Medien und damit einer breiteren Öffentlichkeit am NSU-Komplex ist schon lange sehr gering. Für Schlagzeilen sorgten zuletzt die ersten persönlich gesprochenen Worte Zschäpes im Gerichtssaal und der vermeindliche Fund von DNA-Spuren Böhnhardts am Fundort einer Kinderleiche. So spektakulär beides auf den ersten Blick war, für die Aufklärung der NSU-Morde im engeren Sinne war beides bedeutungslos. Mit einem Urteil im Prozess ist - vielleicht - im Frühjahr 2017 zu rechnen.
Die gesellschaftspolitische Aufarbeitung des gewaltbereiten, mörderischen Rechtsextremismus steht aber erst am Anfang. Das sieht auch der Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes Stephan Kramer so. "Wir müssen uns eingestehen, dass mindestens genauso viele Fragen vorhanden sind, wie wir sie vorher hatten", sagt Kramer fünf Jahre nach dem Auffliegen der Terrorgruppe. Thüringen ist das Heimatland des NSU-Trios.