Prozessbeginn im Mordfall Susanna
12. März 2019Es ist 9.38 Uhr, als Ali B. in den Gerichtssaal geführt wird. Sofort sind Kameras auf den 21-Jährigen gerichtet. Minutenlang steht er im Blitzlichtgewitter. B. legt den Kopf auf seine Arme, dann wieder schlägt er seine Hände vors Gesicht und versucht, sich vor den Blicken zu verstecken.
Knapp 60 Zuschauer sowie ein Heer von Journalisten und Kamerateams sind an diesem Dienstag ins Wiesbadener Landgericht gekommen, um zu hören, was der schmächtige junge Mann im grauen T-Shirt zu sagen hat. Er ist angeklagt, die 14 Jahre alte Schülerin Susanna aus Mainz in der Nacht zum 23. Mai vergangenen Jahres erst vergewaltigt und anschließend, als das Mädchen drohte, zur Polizei zu gehen, erwürgt zu haben. Danach soll er Susanna nahe einer Bahnstrecke entlang der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden vergraben haben. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Vergewaltigung sowie heimtückischen Mord zur Verdeckung einer Straftat vor.
Große Anzahl Prozessbesucher
Der Fall hatte ein großes mediales Echo hervorgerufen. Entsprechend groß ist das Interesse am Prozessbeginn. Zuschauer drängen sich an den Eingängen, vor der Einlasskontrolle haben sich Warteschlangen gebildet. Wer hinein möchte, muss körperliche Durchsuchungen über sich ergehen lassen - am Haupteingang sowie kurz vor Betreten des Zuschauerraums. Akkreditierte Journalisten müssen eine schriftliche Bestätigung vorzeigen, Zuschauer ihre Ausweise abgeben. Diese werden kopiert. "Es gelten gesteigerte Sicherheitsvorkehrungen", so das Gericht zuvor in einer schriftlichen Mitteilung.
Als Ali B. den Gerichtssaal betritt, wird klar, warum: Unmutsäußerungen aus dem Zuschauerraum sind deutlich zu hören. Gegenüber der Polizei hatte B. bereits eingeräumt, Susanna stranguliert zu haben. Für einige Beobachter reicht das offenbar, den Angeklagten zu beschimpfen. Ein faires Verfahren, so scheint es, hat er in ihren Augen nicht verdient.
Ali B. will im Irak bei der Polizei gearbeitet haben
Als B. erzählt, in seinem Heimatland fünf Jahre die Schule besucht und danach "bei der Polizei" gearbeitet zu haben, gibt es im Publikum kein Halten mehr. Lautes Gelächter und ungläubiges Raunen dringen bis zum Richtertisch. Spannung und Unruhe im Raum sind beinahe greifbar. Der Vorsitzende, der das Verfahren souverän, freundlich aber dennoch streng leitet, macht deutlich: Wer sich nicht benehmen kann, fliegt raus. Bald darauf verlässt der erste Zuschauer den Raum.
Kurz zuvor, in all dem Trubel fast unbemerkt, haben die Mutter der toten Susanna sowie deren Lebensgefährte ihre Plätze im Saal eingenommen. Die Mutter, eine kleine Frau mit langen, schwarzen Haaren, hält ein Taschentuch fest umschlossen, als sie direkt gegenüber des Mannes angekommen ist, der ihre Tochter getötet haben soll. Nur einmal kurz blickt sie zu Ali B. herüber. Ansonsten schaut sie meist vor sich auf den Tisch, nestelt an ihrem Taschentuch und kämpft mit den Tränen.
Unterdessen erzählt der Angeklagte, dass er mit seiner Familie "2014 oder 2015" aus dem Irak nach Deutschland gekommen sei. "Wegen Problemen mit Schule, Geld, PKK und dem islamischen Staat" sei die Familie - acht Kinder, Mutter und Vater - geflohen. In Deutschland habe er Drogen und Alkohol kennengelernt und viele Freundinnen gehabt, so B. "Eine Russin, ein türkisches Mädchen", zählt er auf. Susanna habe er über seinen jüngeren Bruder kennengelernt, man habe am ersten Abend bis fünf Uhr morgens geredet und die Zeit miteinander verbracht. Susanna habe zu Hause Stress mit Vater und Mutter gehabt, deswegen sei sie so lange geblieben.
Was geschah kurz vor Susannas Tod?
An dem Abend, der Susannas letzter sein sollte, habe man sich mit mehreren Freunden in der Innenstadt Wiesbadens getroffen. Später habe ein "älterer Freund" des Angeklagten ihn zu sich nach Hause eingeladen. Susanna, mit der er zu jener Zeit besser befreundet und zuvor schon "Hand in Hand" durch die Stadt gelaufen sei, habe mitkommen wollen. Bei dem Mann habe das Trio Alkohol getrunken, Ali B. und der Gastgeber hätten auch noch Marihuana konsumiert, bis dem Angeklagten schwindelig geworden sei. Er habe sich hingelegt. Plötzlich habe Susanna ihn geweckt und aufgefordert, mit ihr zu gehen. Unterwegs habe man plötzlich über "schlimme Sachen" gesprochen, sagt B., dessen Worte von einem Dolmetscher übersetzt werden. "So Sex und so", sagt der 21-Jährige. Er habe Susanna zwei Mal gefragt, dann habe sie "ja" gesagt, windet sich der Angeklagte. "Als wir damit fertig waren, sind wir weitergegangen", beschreibt er den Geschlechtsverkehr, von dem die Staatsanwaltschaft sicher ist, dass er nicht einvernehmlich gewesen ist.
Plötzlich sei Susanna gestolpert und hingefallen. Sie habe eine Wunde gehabt, ihre Kleidung sei verschmutzt gewesen. "Da war sie böse mit mir", sagt B. Sie habe geschimpft, weil sie "so nicht nach Hause" könne, ihre Mutter würde wegen der Sachen und der Wunde Ärger machen. B. habe Susanna beruhigen wollen - erfolglos. Das Mädchen habe gedroht, zur Polizei zu gehen. Warum, wenn Susanna doch nur gestürzt sei, erklärt B. nicht. Susanna jedenfalls habe sich nicht beruhigen lassen. "Es wurde mir schwarz vor Augen, dann kam es zu diesem Ereignis", berichtet der Angeklagte unvermittelt, verklausuliert und in gleicher Stimmlage wie zuvor. Susannas Mutter kann ihre Tränen nicht zurückhalten. Ihr Lebensgefährte, der hinter ihr sitzt, streicht ihr beruhigend über die Schultern. Der Angeklagte erzählt völlig emotionslos, ruhig, gefasst vom Tod ihrer 14 Jahre alten Tochter - beinahe klingt es, als bedauere er sich selbst: "Ich weiß nicht, wie das passieren konnte." Zwei, drei, vier Minuten habe er Susanna von hinten gewürgt. Danach, als "die Dunkelheit" vor seinen Augen verschwunden war, habe er noch den Puls des Mädchens gefühlt. "Da war nichts."
Späte Reue des Angeklagten
Ob Ali B. selbst aufgefallen ist, dass die kühle Schilderung von Susannas Tod, den er ein "Ereignis" nennt, mit Fassungslosigkeit aufgenommen worden ist, oder ob seine Verteidiger dem jungen Mann dazu rieten: Nach einer Pause richtet der 21-jährige Angeklagte sich direkt an die Eltern des 14-jährigen Opfers. "Ich will unbedingt sagen, dass ich alles, was passiert ist, bereue", sagt er. Aus dem Zuschauerraum dringen erneut höhnische Kommentare. "Das Gefängnis für mich wird irgendwann vorbei sein, aber was passiert ist, wird nie vorüber gehen." Er wisse, dass nichts gutzumachen sei, sagt Ali B.
Bei Susannas Mutter brechen alle Dämme. Lautlos laufen ihr die Tränen über das Gesicht, während B. erzählt, kein Mensch zu sein, "der andere umbringen wollte, sonst hätte ich das ja auch im Irak gegen den islamischen Staat machen können", sagt er. Gegen dessen Mitglieder habe er in seiner Heimat kämpfen sollen. Kurz danach verlassen den Angeklagten jedoch seine Kräfte. Zwar berichtet er noch, seiner damaligen Freundin - also nicht Susanna - sowie zwei anderen Bekannten an jenem Abend noch erzählt zu haben, dass er "ein Mädchen" getötet habe, was jedoch offenbar zunächst niemand gemeldet hat. Danach jedoch verstummt er plötzlich. "Ich kann nicht mehr", lässt er über seinen Dolmetscher ausrichten. Er werde nun nichts mehr sagen. Abrupt endet dieser Verhandlungstag, das Verfahren wird fortgesetzt.