"Minderheit zum Sündenbock gemacht"
17. September 2010Frankreichs Ausweisung von Roma hat die EU in "eine beispiellose Krise" gestürzt, kommentiert die linksliberale spanische Tageszeitung "El País":
"Allein die EU-Kommission bot dem französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy auf dem EU-Gipfel die Stirn. Die meisten EU-Regierungschefs gaben dagegen eine traurige Figur ab. Sie entschieden sich für eine opportunistische Haltung und stellten sich auf die Seite Sarkozys. Dabei konnten sie auf die unfreiwillige Hilfe von Viviane Reding bauen. Die EU-Kommissarin hatte ihnen mit ihrer verbalen Entgleisung die Möglichkeit geboten, vom eigentlichen Thema abzulenken. Ein besonders peinliches Spektakel lieferten in dieser Hinsicht die Regierungschefs aus Spanien und Deutschland, José Luis Rodríguez Zapatero und Angela Merkel. Niemand wagte es, Sarkozy wegen dessen Entgleisungen zu kritisieren."
Die linksliberale römische Tageszeitung "La Repubblica" kritisiert Sarkozy:
"Auf dieselbe Weise wie (der libysche Revultionsführer) Gaddafi kürzlich fünf Milliarden Euro jährlich verlangt hat, um Europa die afrikanischen Immigranten vom Hals zu halten, sprechen Sarkozy und (der italienische Ministerpräsident Silvio) Berlusconi heute von den Roma: Als handelte es sich um Abfall und nicht um Menschen. Beide wissen genau, dass sie damit riskieren, die niedrigsten Instinkte in ihrer Bevölkerung zu wecken. (...) Und doch verletzen sie bewusst das Gebäude Europa aus der Angst heraus, die eigene Macht zu verlieren. Dunkle Zeiten sind die, in denen die Herrschenden denen von ihnen selbst geschürten Ängsten zum Opfer fallen, um die Missstimmung unter den Bürgern im Rahmen zu halten."
Frankreichs politisches Ansehen bei der Roma-Diskussion ist nicht unberührt geblieben, meint die französische Regionalzeitung "Dernières Nouvelles d'Alsace" in Straßburg:
"Der Rundbrief des Innenministeriums, der die ethnische Minderheit der Roma namentlich erwähnt, hat nicht nur das Europäische Gipfeltreffen vergiftet, er hat auch Frankreich isoliert. Gewiss wird in Europa hauptsächlich Realpolitik betrieben. Deshalb wird dieser Streit schnell vergessen sein. Doch es werden Spuren bleiben. Im erweiterten Europa hat Frankreich vor allem sein moralisches und historisches Gewicht in die Waagschale werfen können, mehr als wirtschaftliche Leistungen. Dieses politische Ansehen ist nun ernsthaft beschädigt. Und das wegen überstürzter und irrationaler Reaktionen. Die Auflösung illegaler Lager, die gegen die Rechte des Besitzes und sanitäre Normen verstoßen, sind kein Bruch europäischer Gesetze. In diesem Sinn trifft Frankreich keine Schuld. Doch es kommt darauf an, wie man dies durchsetzt. Gewiss nicht, indem man eine Minderheit zum Sündenbock macht."
Die Zeitung "Le Midi Libre" aus dem südfranzösischen Montpellier sieht die EU bei den Roma in der Pflicht:
"Nicolas Sarkozy, sichtlich angespannt und nervös, dachte gestern, er müsste den Brand löschen. Und mit Zähnen und Klauen eine Politik verteidigen, die die Mehrheit der europäischen Länder verurteilt. Mit Ausnahme Italiens (...) Wir haben eine internationale Standpauke erhalten (...) Die Kritik gegen Frankreich ist legitim. Aber die EU muss auch vor der eigenen Türe kehren. Und einen Aktionsplan beschließen, um den Roma in ihren Herkunftsländern zu helfen."
Die Schweizer Tageszeitung "Neue Zürcher Zeitung" kritisiert EU-Kommissarin Reding, die die Abschiebungen mit Deportationen im Zweiten Weltkrieg verglichen hatte:
"Reding erwies mit ihrer unbedachten Äußerung - sofern sie denn unbedacht war - der EU-Kommission einen Bärendienst. Denn damit gab sie Frankreich Munition für eine geharnischte Reaktion in die Hand und half mit, dass das eigentliche Thema weiter in den Hintergrund rückte: die Frage nämlich, ob das französische Vorgehen mit der EU-Gesetzgebung vereinbar ist und wie mit einem eindeutigen Missbrauch des freien Personenverkehrs umzugehen ist, wenn er zudem von einer in vielerlei Hinsicht bedrängten ethnischen Minderheit begangen wird."
Zusammengestellt von: Mona Hefni