Chaostage in London
Kaum hatten Minister und Abgeordnete in London genug Zeit, den 585 Seiten dicken Brexit-Deal auch nur anzuschauen, schon brachten die ersten politischen Sprengsätze Theresa May und ihre Regierung ins Wanken. Den meisten genügte ein Blick auf das Wort "Zollunion", schon begannen die Geschosse zu fliegen. Ein quälender Auftritt im Unterhaus und eine Reihe von Rücktritten, darunter von Brexit-Minister Dominic Raab, stürzten die Premierministerin und das ganze Gefüge der britischen Politik ins Chaos.
Welch wunderbarer Brexit…
Höhnisches Gelächter schallte durch das Parlament in Westminster, als Theresa May erklärte, sie habe nunmehr einen geordneten Brexit ausgehandelt. Dabei ist dieser Deal reines politisches Gift. Den Europa-Freunden bringt er zu wenig Vorteile, den Brexiteers ist er zu nah an der EU. Die Schotten fühlen sich übergangen, die nordirische DUP fordert Gleichbehandlung und die oppositionelle Labour-Party hofft vor allem, die ganze Tory-Regierung mit Hilfe des Brexit stürzen zu können.
Angesichts des geballten Widerstandes aber bewies die Premierministerin einmal mehr ihre grenzenlose Sturheit. Hat sie einmal einen Kurs eingeschlagen, sich auf ein Ziel festgelegt, dann ist sie davon nicht mehr abzubringen. Wie ein Terrier beißt May sich an einer Sache fest und rechtfertigt sie mit einer wiederkehrenden Litanei von Phrasen.
Dieser Deal ist im nationalen Interesse, so heißt der Leitsatz beim Brexit. Die Regierungschefin hat ihn an diesem Tag, wo sie um ihr Überleben kämpfen musste, bestimmt ein dutzendmal wiederholt. Und dabei unermüdlich beschworen, ihr Glaube an diesen Brexit käme von Herzen.
Im Herzen des Brexit liegt die Lüge
Wer Mays Erklärungen zuhörte, wie sie von Arbeitsplätzen sprach, die sie retten und von Wohlstand und Sicherheit des Landes, die sie gewährleisten wolle, dem drängte sich unweigerlich die Einsicht auf: Der einfachste Weg dahin wäre einfach "kein Brexit". Großbritannien würde nicht zum "Vasallen" der EU ohne Stimmrecht. Wirtschaftlicher Schaden wäre abgewendet, Nordirland weiter befriedet, die gemeinsame Sicherheitspolitik gerettet - das Leben könnte so einfach sein.
Stattdessen predigt die britische Premierministerin den Briten einmal mehr, ihr Brexit-Deal würde all jene Vorteile bringen, die eigentlich mit der EU-Mitgliedschaft verbunden sind. Und sie schwärmt von der wunderbaren künftigen Beziehung zu den Europäern, die noch gar nicht geregelt ist. Im Herzen des Brexits bleibt weiter die Lebenslüge seiner Verfechter.
Wider besseres Wissen beschwört Theresa May erneut die mysteriösen Vorteile des Brexits, die irgendwann einmal für das gute Leben der Briten sorgen würden. Sie verspricht bessere Schulen und Krankenhäuser - deren Zustand aber hat nichts mit der EU zu tun und alles mit der jahrelangen Vernachlässigung durch die konservative Regierung in London.
Es geht wie immer um die Macht
Und so verwechselt Theresa May weiter das "nationale Interesse" mit dem ideologischen Spleen der Konservativen, wo seit Jahrzehnten der Morbus europäensis grassiert, eine Krankheit die die Partei von innen zerfrisst. Mögen manche den Kampfesmut der Premierministerin bewundern, tatsächlich opfert sie das Wohl ihres Landes dem eigenen Führungswillen und dem internen Machtkampf bei den Konservativen.
Sollten ihre eigenen Brexiteers ihr wie angekündigt den Dolch in den Rücken stechen - Theresa May hätte diesen politischen Tod durchaus verdient. Die Zukunft des Brexits aber hängt weiter in der Schwebe, denn nichts ist vereinbart, bevor nicht alles vereinbart ist, und zwar von allen. Vier Monate vor dem Austrittsdatum hätten die Briten gerade noch genug Zeit, um das angekündigte Unglück abzuwenden.