Die Rückkehr der politischen Gespenster
24. Februar 2018"O Partisan, bring mich fort / Denn ich fühle, dass ich bald sterben werde". Dramatische Verse aus dramatischer Zeit. Verse, die von tödlichem Kampf handeln, vom Versuch der Schwachen, sich gegen einen übermächtigen Gegner zu wehren. "Bella Ciao" heißt das berühmte Lied der italienischen Partisanen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, es machte ihnen Mut, sich gegen die faschistischen Truppen des Diktators Benito Mussolini und die deutsche Wehrmacht zu stellen.
Eine Woche vor den italienischen Parlamentswahlen erklang das Lied wieder, dieses Mal in Mailand, der Hauptstadt der Lombardei. Angestimmt hatten es linke Demonstranten, überwiegend Studenten. Damit sangen sie gegen die rechtsextremistische Partei "CasaPound Italia" (CPI) an, deren Mitglieder sich an diesem Samstag zu einem Demonstrationszug durch Mailand getroffen hatten. CPI macht vor allem Stimmung gegen die in Italien lebenden Migranten und Flüchtlinge aus Afrika - im Ton einen Tick gemäßigter als die andere große rechtsextremistische Partei, die "Forza Nuova" (FN).
"Italiener zuerst"
Zugleich demonstrierten auch Mitglieder der Lega Nord in Mailand, auch sie auf strikt einwanderungskritischem Kurs. "Italiener zuerst", rief deren Chef Matteo Salvini in Anspielung auf die Parole von US-Präsident Trump, "America first", in die Menge. "Italien zuerst" also - das sei "die Revolution des gesunden Menschenverstands", so Salvini.
Der Unmut der Mailänder Studenten richtete sich an diesem Tag aber vor allem gegen die CasaPound Italia. "Früher Partisanen, heute Anti-Faschisten" hatten sie auf ein breites Spruchband geschrieben, mit dem sie vor dem Denkmal des italienischen Nationalhelden Giuseppe Garibaldi, dem Kämpfer für die Einheit des Landes, posierten.
Der Blick zurück
Eng dem Hakenkreuz nachempfundenen Embleme und Fahnen sowie der durchgestreckte Arm der italienischen Faschisten und deutschen Nationalsozialisten, das ist die eine Seite. Die andere: Garibaldi, das Lied "Bella Ciao", der Versuch, sich als Erben der Partisanen zu inszenieren. Unübersehbar greift ein Teil der gegenwärtigen politischen Kultur Italiens auf die großen historischen Dramen der Vergangenheit zurück, insbesondere auf die Zeit des italienischen Faschismus. Die schenkte den einen eine starke Empfindung der nationalen Zugehörigkeit - und den anderen die Gewissheit, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Für beide Gruppen waren die Grenzen und damit die politischen Identitäten klar gezogen. Zwischen ihnen gab es keine Schnittmenge, jeder wusste, wo er stand.
Von einer auffälligen Rückschau auf die Vergangenheit spricht Bruno Manfellotto, der Kolumnist des Magazin "L´Espresso". Der Blick zurück sorge aber nicht für Klarheit. Auch schärfe er nicht das historische Bewusstsein. Im Gegenteil: In Italien entstehe derzeit "ein kolossales Monument der Vereinfachung, der Bedeutungslosigkeit und einer allgemeinen Banalisierung". Die Folgen seien verheerend: "Dieses Monument hilft uns nicht, zu sehen was gerade passiert. Vielmehr treibt es uns an, zu vergessen. Es hindert uns, nachzudenken."
Faszination Weimarer Republik
Von einer "Faszination an den Weimarer Verhältnissen" spricht in einem Beitrag für "Al-Jazeera" auch der italienische Publizist Lorenzo Marsili. Durch das Land wehe eine regelrechte Todessehnsucht. Er berichtet von verstörenden Eindrücken: "Vielleicht ist ein Krieg das einzige, was unser Land aus seinem Schlummer wecken und der Politik eine Richtung geben kann" - Sätze wie diese höre er derzeit oft, so Marsili. Die Ursache der Düsternis führt er nicht allein auf die unbewältigten Herausforderungen zurück, vor denen das Land stehe - die soziale Ungleichheit, massive ökologische Probleme, der technische Wandel und die (auch) daraus resultierende Arbeitslosigkeit. Ebenso schlimm sei, dass es auf diese Herausforderungen keine überzeugenden Antworten, keine neuen Ideen gebe, nirgends neue Einfälle zu vernehmen seien, die Italien wieder Schwung bescheren könnten.
So erträgt das Land die Gegenwart eher, als dass die Bürger diese gestalteten. Schändlich seien in diesem Zusammenhang auch die Spitzenpolitiker der im Wahlkampf engagierten Parteien, heißt es in einer Kolumne des "Corriere della Sera". Die hätten zwar ihre Agenden. Aber diesen wollten sie offenbar nicht einmal selber folgen. "Sie zitieren nicht einmal aus ihren Programmen. Eher scheint es, als wollten sie sie sogar vergessen", heißt es im Corriere.
"Ich erkenne dich nicht mehr"
Derweil bleibt das Land sich weiter fremd, ist nach wie vor damit beschäftigt, die Wunden zu lecken, die die De-Industrialisierung ihm geschlagen hat. In beklemmenden Szenen schildert etwa der Soziologe Marco Revelli die zu weiten Teilen aufgegebenen Industriebrachen in Turin. Auf den Wegen entlang der stillgelegten Anlagen dringt Unkraut aus dem Asphalt, das ehemalige Testgelände für neue Autotypen ist in gespenstischer Stille versunken. Das Werk, einst der Stolz der ganzen Stadt, steht heute vor allem für eines: dass es einmal bessere Zeiten gab in Italien.
"Non ti riconosco" heißt Revellis Buch, "Ich erkenne dich nicht mehr". Und im Untertitel: "Eine Reise durch ein Italien, das sich ändert." Tatsächlich ändert es sich bis zur Unkenntlichkeit. "Ich weiß nicht mehr, wer ich bin", zitiert der Soziologe einen seiner Gesprächspartner, einen einst gut bezahlten, nun arbeitslosen Ingenieur aus Turin. "Oder besser", sagt der Ingenieur: "Ich weiß nicht mehr, wo ich bin."
Rüde Sprache
Im Elend der Gegenwart lockt der Glanz der Vergangenheit. Der Glanz? Eher handele es sich um eine wirre Projektion, schreibt Bruno Manfellotto im Magazin "L´Espresso". Geboren sei sie aus Kulturlosigkeit, Verachtung historischer Erinnerung - und einem unverantwortlichen Wahlkampf.
In immer rüderer Sprache wendeten sich viele Politiker an ihre potentiellen Wähler. Nur so hofften sie sie zu erreichen - was allerdings auch bitter nötig ist: Nur rund die Hälfte der jungen Wähler, so die Befürchtung, werde sich am Urnengang in der kommenden Woche beteiligen - ein Anzeichen dafür, dass sie von der Zukunft nicht viel erwarten.
Rückkehr der dunklen Jahre?
Umso mehr womöglich von der Vergangenheit. Zurückkehren könnten aber womöglich nicht die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, vermutet Marco Zatterin, stellvertretender Chefredakteur der Zeitung La Stampa. Vielmehr müsse man eine Renaissance der 1970er und 80er Jahre befürchten. Das war die Zeit, als in Italien die Gewalt auf kleiner, aber intensiver Flamme kochte - vor allem durch die linksextremistischen Terroristen, deren berühmtestes Opfer der 1978 von den "Roten Brigaden" entführte und schließlich ermordete Ministerpräsident Aldo Moro wurde.
Ungezügelte Aufrufe zur Gewalt könne man auch heute wieder hören, schreibt Zatterin - und zwar aus allen Seiten des extremen politischen Spektrums, von rechts ebenso wie von links.
Italien, so der Tenor der politischen Analysten, hat den Weg in seine Zukunft noch nicht gefunden. Stattdessen droht es, eine Woche vor den Wahlen, sich in der Düsternis der Vergangenheit zu verlieren.