Blick aus Deutschland
11. Juni 2013Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan erlebt die schwersten Proteste seiner Amtszeit. Allerdings ist er zurzeit verreist. Mit einer Wirtschaftsdelegation im Schlepptau reist er derzeit durch Nordafrika. Er beobachtet die Entwicklung der Proteste aus der Ferne - genau wie die türkische Bevölkerung in Deutschland. Dabei wäre die Berlinerin Berrin Alpeck gerade gern näher dran. Sie telefoniert viel in diesen Tagen, denn auch Bekannte und Verwandte von ihr sind bei den Protesten dabei: "Tagsüber gehen sie ganz normal zur Arbeit und am Abend gehen sie zur Demo." Alpeck versteht den Zorn der Menschen: "Die gehen für ihre Freiheit, für ihre demokratischen Rechte auf die Straße. Die Menschen in der Türkei fühlen sich überwacht und eingeschränkt."
Auch der Berliner Ufuk Yaltirakli kann diese Gefühle nachvollziehen. Bestes Beispiel dafür seien die türkischen Medien. Yaltirakli schaut viel türkisches Fernsehen, bekam dort aber von den Protesten zunächst gar nichts mit. Viele Medien zensierten sich aus Angst vor staatlicher Gängelung offenbar gleich selbst: "Während der amerikanische Fernsehsender CNN über die Proteste berichtete, lief auf dem türkischen CNN eine Tierdokumentation!", empört er sich.
Das Volk ist auf der Straße
Der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, konnte die vergangenen Protesttage dagegen direkt und unzensiert verfolgen. Die Deutsche Welle erreichte ihn nach seiner Rückkehr von einem mehrtägigen Istanbulbesuch. "Ich habe viele Dinge erlebt. Zunächst einmal eine friedliche Demonstration von Zehntausenden Menschen, die zum ersten Mal in ihrem Leben an einer Demonstration teilgenommen haben." Besonders sei gewesen, dass erstmals wirklich das Volk auf die Straße gegangen sei und nicht einzelne Splittergruppen.
Er habe sich an die deutschen Proteste gegen Stuttgart 21 erinnert gefühlt, sagt Kolat - ein milliardenschweres Bahnhofsprojekt in Stuttgart. Tatsächlich entzündeten sich auch die türkischen Proteste an einem Bauprojekt - und an den Bäumen, die dafür gefällt werden sollen. Auf dem Gelände des Istanbuler Gezi-Parks soll ein historisches Kasernengebäude, das früher einmal an diesem Ort stand, neu entstehen – als Ort für Cafés, Museen und eventuell ein Einkaufszentrum. Umweltschützer sahen eine der letzten Grünflächen der Stadt gefährdet und zogen auf die Straße, die Polizei reagierte mit harter Gewalt. Die Folge: Die Proteste weiteten sich aus und nahmen grundsätzlichere Züge an. Die Demonstranten machen inzwischen ihrer Abneigung gegen einen allzu selbstherrlichen Regierungsstil Erdogans Luft. Sie werfen ihm vor, dass er dem ganzen Land seine konservativ-religiösen Werte aufzwingen wolle, etwa indem er per Gesetz den Ausschank und Verkauf von Alkohol noch schärfer reglementiert.
Klarere Worte gegen die Gewalt
Der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland zeigte sich spürbar bewegt von den Eindrücken der vergangenen Tage. Das harte Vorgehen der Polizei bei den Protesten mit Wasserwerfern und Tränengas verurteilt er scharf. "Ich habe es am eigenen Leib erlebt. Ich konnte nicht atmen, mich hat das Tränengas auch erwischt." Sein Stellvertreter Hilmi Kaya Turan, der mit ihm in der Türkei war, sei sogar vom Geschoss einer Reizgaspistole an der Wade verletzt worden. Kolat wünscht sich vonseiten der EU und der deutschen Bundesregierung nun "klarere Worte" in dieser Angelegenheit an Erdogan. Die Entschuldigung, die der türkische Vizeregierungschef am Dienstag an die Opfer der Polizeigewalt richtete, hält Kolat nicht für ausreichend. Er fordert, dass die Verantwortlichen bei der Polizei bestraft werden, erst dann werde es eine Grundlage für Gespräche zwischen den Konfliktparteien in der Türkei geben.
Auch Bekir Yilmaz, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde zu Berlin, zeigte sich besorgt über die Gewalt in der Türkei. Er glaubt jedoch, dass die Proteste von linken, oppositionellen Gruppen vorangetrieben würden, um die Regierung zu stürzen - eine Regierung, die mit mehr als 50 Prozent gewählt wurde, wie er betont. "Auf demokratischem Wege kommen sie der Regierung nicht bei und versuchen es jetzt auf andere Art und Weise. Und die Bewegung, die friedlich angefangen hat, haben diese Gruppierungen zum Anlass genommen, um zu provozieren", meint Yilmaz. Dabei müsse man anerkennen, dass Erdogans Regierung das Land in den vergangenen zehn Jahren vorangebracht habe und der Großteil der Bevölkerung hinter ihm stehe.
Proteste bald erledigt?
Die Art, wie Ministerpräsident Erdogan auf die Protestbewegung reagiert hat, findet aber auch Bekir Yilmaz nicht richtig. Der Ministerpräsident hatte jegliche Forderungen der Demonstranten brüsk zurückgewiesen und gesagt, dass ausländische Kräfte hinter den Protesten steckten. Für Yilmaz steht fest, "dass man auch als Ministerpräsident nicht immer mit dem Kopf durch die Wand gehen darf. Dass man, auch wenn man 50 Prozent bei Wahlen hat, auf alle Gruppierungen hören muss und ein Ohr haben muss, damit eine Gesellschaft friedlich miteinander umgehen kann."
Ministerpräsident Erdogan ließ inzwischen am Rande seines Besuchs in Nordafrika verlauten, er habe den Eindruck, die Lage in der Türkei beruhige sich allmählich, und wenn er am Donnerstag (6. Juni) zurückkehre, würden die "Probleme" erledigt sein. Unterdessen demonstrierten in der Nacht zum Mittwoch wieder Zehntausende Menschen in mehreren türkischen Städten – zum sechsten Mal in Folge. Wieder setzte die türkische Polizei Wasserwerfer und Tränengas gegen die Demonstranten ein.