Ertug: Türkei ist noch nicht so weit
5. Juni 2013Deutsche Welle: Herr Ertug, wie sehen Sie die Lage in der Türkei? Trifft die Kritik zu, die jetzt immer mehr aus Europa kommt, dass Ministerpräsident Erdogan nicht verhältnismäßig reagiert und die Versammlungsfreiheit mehr achten müsse?
Ismail Ertug: Dass die Polizei unverhältnismäßig vorgegangen ist, das ist, glaube ich, unbestritten. Das ist eine Entwicklung, die man nicht nur jetzt feststellt, sondern zu verschiedensten Anlässen in der Türkei schon festgestellt hat. Das hat nichts mit Ideologie oder Lagerdenken zu tun. Diese Härte ist, leider Gottes, des Öfteren vorgekommen. Da muss es dann erlaubt sein zu sagen: Leute, so geht das nicht! Man muss friedlichen Protest der Bürgerinnen und Bürger, der Zivilgesellschaft, zulassen. Das wurde am letzten Freitag nicht getan. Darum ist die Kritik berechtigt.
Hat Sie es überrascht, wie massiv der Protest in vielen Städten losgebrochen ist? Wie ist das zu erklären?
Ich glaube, dass die politische Elite alles falsch gemacht hat, was man falsch machen kann. Hätte man, das ist meine Einschätzung, am Freitag, als die Proteste und Demonstrationen friedlich abliefen, hätte man da den Menschen Gehör geschenkt, wäre da jemand von den Offiziellen zu den Bürgern und Demonstranten gegangen, hätte man, wie Staatspräsident Gül, Verständnis geäußert für die Sorgen der Menschen, dann wäre es nicht soweit gekommen. Jetzt hat man durch harte Rhetorik und unverhältnismäßige Härte noch mehr Protest heraufbeschworen, der sich in verschiedenen Provinzen der Türkei ausgebreitet hat.
Welche Einflussmöglichkeiten hat Europa auf die Regierung von Ministerpräsident Erdogan? Können Sie überhaupt etwas bewirken von Brüssel aus?
Ich denke schon, und das wird ja auch gemacht von Seiten der Europäischen Union. Neben dem Parlamentspräsidenten Martin Schulz hat sich auch die Hohe Beauftragte für die Außenpolitik, Lady Ashton, gemeldet. Ebenso der deutsche Außenminister Westerwelle und die Vertreter der USA. Hier wird versucht mäßigend einzuwirken, hauptsächlich mit Appellen. Trotzdem darf man die Türkei jetzt nicht alleine lassen, sondern könnte auch eine gutgemeinte Vermittlung zwischen denjenigen, die sich unterdrückt fühlen, und den politischen Eliten übernehmen. Ich glaube, dass wir hier begleitend koordinieren und als Mediator fungieren könnten.
Die Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei stocken schon seit Jahren. Das, was jetzt gerade passiert, ist wahrscheinlich nicht hilfreich, um sie zu befördern?
Richtig, die Beitrittsverhandlungen stocken aus einem bestimmten Grund. Das ist der ungelöste Knoten Zypern. Da gehören aber immer zwei dazu. Zum einen haben Sie die Türkei, die nicht bereit ist, das Ankara-Protokoll (die Anerkennung des EU-Mitglieds Zypern, Anmerk. d. Red.) umzusetzen. Zum anderen haben Sie das Verhalten der Europäischen Union, besonders vom ehemaligen französischen Präsidenten Sarkozy, die Türkei dauernd vor den Kopf zu stoßen. Deshalb hat sich das gegenseitig so aufgeschaukelt. Die EU hat andere Sorgen derzeit als Erweiterung, nämlich Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Jugendarbeitslosigkeit. Die Türkei kann sich mit ihrem Wirtschaftswachstum und ihrem Bedeutungsgewinn in der Außenpolitik durchaus andere Konstellationen vorstellen. Ich gehe davon aus, dass die Vorfälle in der Türkei für die jetzige Regierung, auch wenn sie es nicht so darstellt, Anlass sein könnten, darüber nachzudenken, ob diese harte Vorgehensweise, diese sehr autoritäre Führungsweise noch richtig sein kann in der heutigen Zeit. Ich sehe da eher eine Chance als eine Gefahr. Natürlich muss man erst einmal abwarten, bis die Demonstrationen wieder abebben.
Das heißt, die aktuellen Demonstrationen und die harte Reaktion zeigen, dass die Türkei demokratisch noch nicht so weit gefestigt ist, dass sie der Europäischen Union beitreten könnte?
Selbstverständlich ist die Türkei noch nicht so weit. Das erwartet ja auch niemand. Die Beitritts- und Verhandlungsphase ist eine Transformations-Phase. Die Länder, die der EU beitreten wollen, haben ja nicht umsonst immer viele, viele Jahre vor sich, in denen sie sich durch Refomen fit für die EU machen. Wenn Sie sich anschauen, wie lange die kleinen osteuropäischen Länder gebraucht haben, dann sieht man, dass das sehr schwierig ist, insbesondere für die Türkei mit 74 Millionen Einwohnern, einem Vielvölker-Staat in einer schwierigen geografischen Lage. Die brauchen noch Zeit dazu. Niemand erwartet, dass die Türkei heute in der Lage ist, der Europäischen Union beizutreten. Dazu braucht es einen Wechsel, auch in den Köpfen, hin zur jüngeren Generation. Denn die Jüngeren sind europäisch geschult. Sie haben mehr Kontakte als die jetzige politische Elite, die aus einer Türkei erwachsen ist, die in den letzten 30 bis 40 Jahren eine geschlossene Gesellschaft war. Ich glaube, dass der Weg mit der jüngeren Generation einfacher wird, aber derzeit ist die Türkei noch nicht so weit.
Ismail Ertug (37) ist seit 2009 Abgeordneter im Europäischen Parlament. Er ist Mitglied der Sozialdemokratischen Partei und vertritt das östliche Bayern um Regensburg. Der Betriebswirt engagiert sich für die Zusammenarbeit zwischen dem türkischen und dem europäischen Parlament im gemeinsamen EU-Türkei-Ausschuss. Ertugs Eltern wanderten 1972 aus der Türkei nach Deutschland ein.