Midterms, ein Weckruf für deutsche Sicherheitspolitik
Ja, die Verteidiger der Demokratie haben in den USA besser abgeschnitten als erwartet. Die Demokraten haben bei den Zwischenwahlen das beste Ergebnis aller Präsidentschaftsparteien seit 2002 erzielt. Damals, nach dem 11. September 2001, scharten sich die Amerikaner um die Nationalflagge (und die Republikaner).
Angesichts des aktuellen Inflationsdrucks und der historisch niedrigen Zustimmungsraten für US-Präsident Joe Biden ist das Ergebnis der Zwischenwahlen bemerkenswert. Denn es zeigt, dass das Narrativ einer polarisierten Wählerschaft zu kurz greift.
Ein Grund dafür ist die "erschöpfte Mitte". Wie Untersuchungen der gemeinnützigen Organisation More in Common zeigen, ist diese Gruppe weniger sichtbar und lautstark als die extremen Kräfte. Ihre Stimmen aber waren für den Wahlausgang entscheidend.
Donald Trump und die Kandidaten der Republikaner scheinen für viele Menschen in dieser "erschöpften Mitte" keine attraktive Alternative darzustellen - auch wenn dies nicht zur Beliebtheit Bidens beigetragen hat. Ein beträchtlicher Teil dieser Bevölkerungsgruppe sehnt sich einfach nach gemäßigteren Kandidaten beider Parteien, wie eine weitere aktuelle Studie von More in Common zeigt.
Doch auch wenn die Demokraten über das Ergebnis der Midterms erleichtert sein mögen, sollte die Gefahr einer demokratischen Dysfunktion in den USA weiterhin all denjenigen Ländern zu denken geben, die sich in Bezug auf ihre Sicherheit auf die USA verlassen, vor allem Deutschland.
Wie belastbar ist US-Demokratie?
Die Gefahr eines größeren demokratischen Zusammenbruchs in den USA wird auch dann nicht gebannt sein, wenn Trump bei seiner Bewerbung um die Nominierung für die Präsidentschaftswahlen 2024 nicht erfolgreich ist. Schließlich haben die meisten Kandidaten der Republikanischen Partei sich bisher nicht klar und deutlich von dem versuchten Staatsstreich am 6. Januar 2021 distanziert, geschweige denn von den vielen Verschwörungstheorien, die die Legitimität der Wahlen 2020 anzweifeln. Das verdeutlicht die Gefahrenzone, in die sich die US-Demokratie begeben hat und aus der sie in absehbarer Zeit nicht herauskommen wird.
Die Verbündeten der USA in Europa können wenig tun, um den Zustand der US-Demokratie oder den Ausgang der Wahlen zu beeinflussen. Aber sie können und sollten sich auf das konzentrieren, was sie kontrollieren können: nämlich in ihre eigenen Fähigkeiten zu investieren, um sich auf eine Zukunft vorzubereiten, in der die USA nicht mehr für die Sicherheit Europas sorgen.
Der größte Fehler, den Deutschland jetzt machen könnte, wäre es, die militärische Unterstützung der USA für die Ukraine unter der Regierung Biden als selbstverständlich zu betrachten. Im Gegenteil, Deutschland sollte dankbar dafür sein, wie kompetent US-Regierung und US-Kongress sowohl Unterstützung für die Ukraine als auch größtmögliche Einigkeit und Einbindung unter den Europäern organisieren.
Biden, der letzte Transatlantiker?
Mit Blick auf die Zukunft sollte Berlin die Politik Bidens eher als Ausnahme denn als Regelfall betrachten. Biden wird vermutlich als letzter Transatlantiker im Weißen Haus in die Geschichte eingehen. Deutschland sollte in Zukunft mit deutlich weniger Engagement bei der Bereitstellung von Ressourcen für die europäische Sicherheit aus den USA rechnen - selbst wenn in Washington moderate und demokratisch gesonnene Präsidenten regieren.
Die USA werden sich auf den asiatisch-pazifischen Raum konzentrieren, wo China aus Sicht der USA die größte Herausforderung darstellt. Von den Europäern erwartet Washington deshalb, dass sie sich stärker um die Sicherheitsbedürfnisse in ihrer eigenen Nachbarschaft kümmern.
Experte Jeremy Shapiro vom European Council on Foreign Relations prognostiziert, dass der Druck der USA auf die Europäer, einen weitaus größeren Teil der Kosten für die Unterstützung der Ukraine zu übernehmen, sehr bald zunehmen wird. Diese Prognose bezieht sich auf ein für Europa günstiges Szenario ohne die Rückkehr eines Präsidenten vom Typ Trump ins Weiße Haus.
Russland bleibt bedrohlich
Nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine gab es einen Moment, in dem die Angst, dass Russland die Ukraine schnell unter seine Kontrolle brächte und andere europäische Länder ebenfalls Opfer eines Angriffs sein könnten, Deutschland dazu veranlasste, höhere Ausgaben für Militär und Sicherheit zu beschließen. In diesem Zusammenhang hielt Bundeskanzler Olaf Scholz im Februar eine Rede zur sogenannten Zeitenwende, und kündigte an, dass die Regierung zusätzlich 100 Milliarden Euro für die Stärkung des deutschen Militärs bereitstellen werde.
Mittlerweile hat sich diese Angst aufgrund der militärischen Erfolge der Ukraine etwas gelegt. Doch trotz der großen Verluste an Ausrüstung und Personal beim russischen Militär sollte Deutschland künftige Bedrohungen aus Russland nicht unterschätzen - ungeachtet der miserablen Leistungen des russischen Militärs.
Deutschland muss sicherheitspolitisch auf seinen eigenen Füßen stehen können. Denn in Zukunft wird es keinen großväterlichen Biden mehr geben, der sich um uns kümmert.
Thorsten Benner ist Direktor des Global Public Policy Institute (GPPi) in Berlin und Mitglied des Global Board of Directors von More in Common.
Der Text wurde von Astrid Prange de Oliveira aus dem Englischen adaptiert.