Ex-Nonne: "Ich war das ideale Opfer"
7. Februar 2019Papst Franziskus hat diese Woche erstmals Vorfälle von sexuellen Missbrauch und Vergewaltigungen von Nonnen in der katholischen Kirche eingeräumt. Die katholische Kirche müsse mehr dagegen tun, sagte der Papst. Zuletzt hatten sich Vorwürfe von Klosterschwestern gegen hohe kirchliche Würdenträger weltweit gehäuft. So reichte der österreichische Pater Hermann Geissler vergangene Woche seinen Rücktritt als Büroleiter der Kongregation für die Glaubenslehre ein. Er soll die deutsche Ordensschwester Doris Wagner im Beichtstuhl massiv bedrängt haben.
Sie heißt mittlerweile Doris Reisinger und hat das Kloster verlassen. Gerade Ordensgemeinschaften seien oft auf Unterordnung des Einzelnen ausgelegt und böten damit ideale Voraussetzungen für Übergriffe, sagt die ehemalige Nonne im DW-Interview und berichtet von der Vergewaltigung durch einen Priester.
Deutsche Welle: Frau Reisinger, was haben Sie gedacht, als Sie die Äußerung des Papstes gehört haben?
Doris Reisinger: Ich habe zuerst gedacht "Wow, dass er das jemals zugibt, dass überhaupt jemals von der Kirche zugegeben wird, dass es solche Fälle gibt!" Und auf der anderen Seite habe ich gedacht: "Wie kann der Papst das öffentlich machen, ohne einen Plan zu präsentieren, ohne zu sagen, wie er bisher damit umgegangen ist und was der Vatikan jetzt vorhat?"
Was erwarten Sie jetzt vom Papst?
Ich erwarte, dass er auch zugibt, wie weit verbreitet diese Fälle sind. Er hat ja schon wieder eine Art Relativierung vorgenommen, indem er gesagt hat, sexueller Missbrauch von Nonnen durch Priester komme in bestimmten Gemeinschaften, in bestimmten Ländern besonders häufig vor.
Ich frage mich, woher der Papst die Beweise für diese Behauptung nimmt. Meiner Kenntnis nach ist die einzige Untersuchung, die es bisher dazu gab, in den 1990er-Jahren in den USA durchgeführt worden. Und die legt nahe, dass 30 Prozent aller Ordensfrauen in ihren Klöstern missbraucht worden sind. Und ich weiß nicht, woher er die Erkenntnis haben will, dass das in anderen Ländern anders wäre. Es gibt eine Studie von Maura O'Donohue, die Fälle in 23 Ländern gefunden hat. Und das sind Länder auf der ganzen Welt - von Brasilien über Irland, Italien, afrikanische Länder, die USA bis zu den Philippinen.
"Schwestern sind nach erzwungener Abtreibung gestorben"
Ich erwarte, dass es mehr Forschung dazu gibt, unabhängige Forschung. Vor allem die Fälle, die dem Vatikan schon bekannt sind, müssen nun ordentlich untersucht werden. Es muss transparent ermittelt werden, die Täter müssen überführt und bestraft werden und es muss auch transparent gemacht werden, wer die Täter sind und welche Sanktionen es gibt.
Und ich erwarte vor allem, dass die Opfer entschädigt werden. Es gibt Schwestern, die in Klöstern sexuell missbraucht worden sind, die sich mit Aids angesteckt haben. Es gibt Schwestern, die wegen der Infektion aus den Klöstern rausgeschmissen worden sind. Es gibt Schwestern, die schwanger geworden sind und nun mit Kindern auf der Straße sitzen, es gibt Schwestern, die zu Abtreibungen gezwungen worden sind, es gibt sogar Fälle, wo Schwestern bei erzwungenen, nicht professionell vorgenommenen Abtreibungen gestorben sind. Da erwarte ich, dass es eine Entschädigung gibt und eine ordentlich, unabhängige Aufklärung.
Als Abiturientin sind Sie in die Gemeinschaft "Das Werk" eingetreten. Ein Pater hat Sie dort mehrfach vergewaltigt, ein anderer wurde übergriffig, berichten Sie. "Ich passte ins Beuteschema", haben Sie mal gesagt. Was meinen Sie damit?
Ich war eine sehr idealistische, sehr gläubige junge Frau. Ich bin da mit 19 Jahren eingetreten, ich habe an meine Berufung geglaubt und ich hab an das Ideal geglaubt, dass man durch Selbstlosigkeit und durch Selbstaufgabe im geistlichen Leben weiterkommt - auch dadurch, dass man Sachen tut, die man nicht sofort versteht.
Irgendwann, ich habe gar nicht gemerkt, wie schnell das ging, konnte ich gar nicht mehr "ich" sagen und schon gar nicht "ich will" und "ich will nicht". Damit war ich ein perfektes Opfer für einen Pater, der in diesem System übergriffig geworden ist. Und das trifft auf viele Ordensfrauen zu.
Dass der Übergriff falsch war, mussten Sie doch von Anfang an wissen, oder nicht?
In dem Moment, als er das getan hat, habe ich gewusst: "Das ist nicht richtig." Ich habe ihm das auch gesagt: "Sie dürfen das nicht." Aber ich war in dem Moment unfähig, mich zu wehren. Ich war auch danach unfähig, zu verstehen, was da wirklich passiert ist. Ich war so zerstört in dieser Situation, dass ich komplett handlungsunfähig war. Ich musste erst wieder so weit kommen, innerlich wieder zu wissen: "Ich bin jemand, ich habe noch ein Leben, mit mir darf man so etwas nicht machen." Erst dann konnte ich meine Oberen mit diesen Taten konfrontieren und dann irgendwann aus der Gemeinschaft austreten und das öffentlich machen.
Wie haben Sie sich daraus befreit?
Das war ein langer Weg. Was mir wirklich das Leben gerettet hat, war, dass es in der Gemeinschaft jemanden gab, mit dem ich reden konnte. Und der auch sofort mir rückgespiegelt hat: "Das ist schlimm, was Dir da passiert ist. Das hätte nicht passieren dürfen. Und da könnte man auch etwas dagegen machen, du könntest den anzeigen." Das zu hören, war unglaublich wichtig. Dann hatte ich das große Glück, dass ich studiert habe, das hat mich intellektuell auch noch einmal unabhängig gemacht. Und ich hatte ein Stipendium, das mich auch finanziell unabhängig gemacht hat und so konnte ich überhaupt austreten.
Gelübde und Gehorsam in katholischen Orden - wird damit nicht zwangsläufig eine Art von Missbrauch gefördert?
Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass die Gelübde und auch das Ordensleben so ausgestaltet werden könnten, so ausgelegt und aufgefasst, dass Menschen auch selbstbestimmt und innerlich frei leben könnten. Ich sehe das aber nur leider sehr wenig in Ordensgemeinschaften. Und es gibt sehr starke Traditionen, die Unterordnung verlangen und Menschen einschränken und beschränken. Aber ich glaube nicht, dass das zwangsläufig so sein müsste.
Doris Reisinger wurde 1983 in Deutschland geboren. Im Alter von 19 Jahren, trat sie der katholischen Ordensgemeinschaft "Das Werk" bei, die enge Verbindungen zur römischen Kurie unterhält. Als junge Schwester erlitt sie laut eigenen Angaben in dieser Gemeinschaft verschiedene Arten von Missbrauch, von spiritueller Manipulation bis hin zu Vergewaltigung durch einen Priester. Im Jahr 2011 verließ sie Gemeinschaft und ihr religiöses Leben. Im Jahr 2014 schloss Reisinger ihr Theologiestudium in Deutschland ab. Ihre Erfahrungen sexueller Gewalt beschrieb und verarbeitete die Theologin in einem Buch. Verschiedene deutsche Diözesen luden sie als Referentin über das Thema des geistlichen Missbrauchs in der katholischen Kirche zu sprechen. Derzeit schreibt Doris Reisinger ihre Doktorarbeit in analytischer Philosophie. Sie ist verheiratet und hat ein Kind.