Die unsichtbare Mauer von Ndefo
4. März 2013Mit schweren Schritten schlurft Peter Njechia durch Ndefo. Er zeigt auf eine ausgebrannte Ruine. Nur die verrostete Eisentür ist noch fest in ihren Angeln, innen wachsen Gras und Büsche unter freiem Himmel. "Das hier war mein Laden. Da waren alle Sachen drin." Die Angreifer hatten die Fackeln durchs Fenster geworfen. "Ich konnte nichts mehr retten", sagt der ehemals erfolgreiche Händler.
Die kleine Ladenzeile steht mit anderen ausgebrannten Häusern, kompletten Ruinen und einigen neu gebauten Geschäften direkt an der Hauptstraße von Ndefo. Mitten im Rift Valley gelegen ist der Ort etwa 180 Kilometer nordwestlich von Nairobi entfernt. So weit Ndefo auch vom Machtzentrum des Landes weg ist, symbolisiert es doch in besonderer Weise die Probleme Kenias, die auch die diesjährige Präsidentschaftswahl am 4. März wieder überschatten.
Die einzige geteerte Straße hier durchzieht den Ort Ndefo wie eine Grenzlinie. Auf der einen Seite leben die Kikuyu, Kenias größte Ethnie, auf der anderen Seite die Kalenjin, die zu den fünf größten Stämmen des Landes gehören. Vor fünf Jahren, nach der letzten Wahl, gingen beide Seiten aufeinander los. Die Kalenjin rächten sich für vermeintlichen Stimmenklau durch die Kikuyu. Deren Vergeltung für die Übergriffe war ebenso brutal.
Ein Dorf symbolisiert das ganze Land
Zwischen den verbliebenen Grundmauern am Dorfplatz auf der Kikuyu-Seite ist heute Mais zum Trocknen ausgelegt, dazwischen spielen Kinder, das Leben im Dorf der zwei Stämme geht seinen gewohnten Gang. Dieses Bild will zumindest die stellvertretende Dorfvorsteherin Grace Wanjiru vermitteln: "Zuerst konnten wir nicht miteinander reden. Aber jetzt geht es wieder." Es hätten viele Treffen stattgefunden, Kikuyu und Kalenjin hätten sich gegenseitig besucht. "Jetzt ist alles wieder normal", sagt Wanjiru.
Wenn man Peter Njechia auf eine Aussöhnung mit den Kalenjin anspricht, hört sich die Anwort ganz anders an: "Mit wem sollen wir uns denn ausgesöhnt haben? Wo und wann?" Man könne sich wohl kaum aussöhnen, wenn keiner um Vergebung bittet, entrüstet er sich. "Wo gibt es denn sowas?" sagt er und zeigt verbittert auf die andere Straßenseite, wo die Kalenjin leben. Die ethnische Grenze in Ndefo gilt fürs ganze Land – und bestimmt auch das Wahlverhalten der meisten Kenianer.
Wut über Stimmenbetrug
Die Kalenjin gaben ihre Stimme bei der Wahl Ende 2007 der Oppositionsgruppe unter Raila Odinga. Einige Wochen vor den Wahlen lag Odinga mit seiner Allianz aus Kalenjin, Luo, Kisii und anderen Ethnien in Umfragen klar vorne. Umso größer war deren Wut, als bei der Auszählung der Stimmen am dritten Tag nach der Wahl doch noch die Regierungskoalition unter Kikuyu-Präsident Mwai Kibaki die Wahl knapp gewann. Ihren Zorn richteten die Kalenjin gegen alle Angehörige der Stämme, deren Vertreter Wahlsieger Kibaki unterstützten. Nur ein paar Wochen später folgte die Rache der Kibaki-Anhänger: Auch sie gingen auf ihre Nachbarn, deren Frauen, ja sogar auf die Kinder der verfeindeten Stämme los.
Philemon Mkesia zeigt die Wunden am Arm seiner Tochter Deborah. Sie war vier Jahre alt, als Nachbarn das Haus der Familie abbrannten. Die Tochter konnte entkommen, sein dreijähriger Sohn verbrannte in den Flammen. Zurück in sein altes Leben als Manager einer Blumenfarm in Naivasha will er nicht mehr: "Es ist dort sehr feindselig, jetzt leben da nur noch Kikuyu." Mkesia ist arbeitslos und lebt mit seiner Familie in einem Slum von Nakuru, der Provinzhauptstadt.
Kein Heilmittel für die Seele
Dort arbeitet auch Martin Brown. Der junge Kenianer engagiert sich in Friedensprojekten für Jugendliche und kennt viele solcher Schicksale von den Nachwahl-Unruhen. Für die vielen Schmerzen gäbe es keine Heilung. "Die Art, wie die Nachwahl-Unruhen verarbeitet wurde, war völlig falsch. Wir haben angefangen, die Gebäude wieder aufzubauen und Institutionen einzurichten, anstatt zuerst unsere Herzen zu heilen."
Damit meint Brown die Kommission für Wahrheit und Aussöhnung. Die Regierung hatte sie gegründet, nachdem sich die Konfliktparteien zu einem Friedensvertrag durchgerungen hatten. Das geschah unter Vermittlung des ehemaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan im März 2008. Zusätzlich sollten auf lokaler Ebene Friedensgespräche geführt werden.
So auch in Ndefo zwischen Kikuyu und Kalenjin. Die Initiative dazu ging allerdings nicht von der kenianischen Regierung aus, sondern von einer katholischen Organisation aus dem Ausland. Ezekia Tarer hat für die Kalenjin an den Treffen teilgenommen. Seine Antwort zum Stand der Aussöhnung in Ndefo gibt er lieber erst, als er sich sicher ist, dass keiner seiner Kikuyu-Nachbarn mithört: "Der Frieden hier ist erzwungen. Wenn der Nachbar ein neues Haus bekommt und man selbst nicht, wie kann man da einen wirklichen, inneren Frieden finden?"
Flüchtlinge unzufrieden über Entschädigungen
Wie überall in Kenia hat das eigens ernannte Ministerium für Wiederansiedlung auch in Ndefo neue Häuser für die Vertriebenen bauen lassen. Allerdings nur auf der Seite der Kikuyu, monieren die Kalenjin und haben auch gleich den Grund dafür parat: Die zuständige Ministerin sei ja auch Kikuyu.
Aber auch auf der Kikuyu-Seite ist man nicht zufrieden mit der Hilfe der Regierung. 39 neue Häuser für 1500 abgebrannte - das sei einfach zu wenig. Wer vorher seine Großfamilie auf mehrere Häuser aufteilte, muss nun mit einem auskommen. Und das sei längst nicht alles, beklagt Virginia Wangari: "Unsere Sachen, Möbel, das ist ja alles verbrannt. Jetzt haben wir nicht mal einen Stuhl bekommen, alles müssen wir uns selbst beschaffen. Unsere Kinder schlafen bis heute auf dem Boden."
Das wiederum erregt bei den Kalenjin kaum Mitleid. Sie fühlen sich schon zu lange benachteiligt von den Kikuyu. Ihr Ärger spiegelt das Gefühl der Ungerechtigkeit wieder, das viele der 41 anderen Ethnien Kenias empfinden. Der Ursprung liegt weit zurück, als Kenia noch britische Kolonie war.
Ursache für Gewalt liegt in Kenias Geschichte
Damals verloren vor allem die Kikuyu viel Land in Zentral-Kenia an die britischen Siedler. Nur wenige Kollaborateure unter den Kikuyu profitierten. Nach der Unabhängigkeit kaufte die kenianische Regierung große Flächen zurück, wovon sich jedoch die Kikuyu-Elite große Teile aneignete. Zeitgleich wurden Kleinbauern der Kikuyu und andere Ethnien aus Westkenia dort angesiedelt – und auch im Rift Valley. Dort lebten bis dahin fast nur Kalenjin. Sie sehen in den Kikuyu immer noch Landbesetzer. Eine Landkommission, die sich endlich des Streits annehmen sollte, war ebenfalls Teil des Friedensabkommens nach den Unruhen 2008. Aber auf die Kommission warten die Kenianer bis heute vergeblich.
Auch in anderen Bereichen würden Kikuyu bevorzugt, so die einhellige Meinung vieler Ethnien. Das berichtet auch der Luo Philemon Mkesia von seiner vergeblichen Suche nach einer neuen Arbeitsstelle: "Wenn du hier eine Arbeit suchst, wirst du als erstes gefragt, von welchen Stamm du bist. Wenn das nicht der richtige ist, bekommst du auch keine Arbeit. Die Kikuyu werden immer bevorzugt, weil auch die politischen Führer Kikuyu sind."
Die eigenen Leute wählen
Der Klientelismus ist das zentrale Problem in Kenia. Denn er nährt die vorherrschende Meinung, dass man die Kandidaten der eigenen Ethnie wählen muss, um vom großen Kuchen der kenianischen Ressourcen profitieren zu können. So könne in Kenia keine friedliche Demokratie entstehen, ist der Friedensaktivist Martin Brown aus Nakuru überzeugt: "Solange wir so denken, werden wir das Problem nie lösen. Wir definieren uns nicht über die persönliche Identität, sondern über die ethnische. Und das aber meistens mit einem negativen Beigeschmack."
Martin Brown ist überzeugt, dass man in Kenia bei den Jugendlichen anfangen müsse. Ihnen ein Denken frei von ethnischen Vorurteilen zu vermitteln ist Ziel vieler Seminare, die er mit Hilfe von internationalen Organisationen veranstaltet.
Klar ist, dass viele Kenianer gar nicht erst wählen werden. Laut Angaben des "Netzwerks der internen Vertriebenen" leben immer noch 50.000 Menschen in Flüchtlingscamps, oft unter menschenunwürdigen Bedingungen. Darunter auch viele Kikuyu. Weitere 350.000 sind bei Verwandten oder Freunden untergekommen und haben aber bislang noch keine Hilfe bekommen. Sie wollen mit ihrer Stimme keine Regierung abnicken, die sich genauso wenig um ihre Zukunft kümmert wie die jetzige.