Bottrop: Vom Wahn zum Terror
3. Januar 2019Erst in Bottrop, dann in Essen. Mehrfach fährt der 50-jährige Deutsche Andreas N. gezielt in ausländisch aussehende Menschengruppen. Acht Menschen verletzt er, bevor ihn die Polizei in der Silvesternacht festnimmt. Derzeit sitzt Andreas N. in Untersuchungshaft. Die Behörden gehen von einem fremdenfeindlichen Motiv aus.
Der Hartz IV-Empfänger aus Essen soll aber auch psychisch erkrankt sein. Handelte es sich um einen kaltblütig geplanten rechtsextremistischen Terrorakt oder um den Amoklauf eines Einzeltäters, dessen rechtsextremistische Gedankenwelt durch eine psychische Krankheit radikalisiert wurde?
Klare Tötungsabsicht in der Silvesternacht
Noch ist die Faktenlage überschaubar. "Es gab die klare Absicht von diesem Mann, Ausländer zu töten", sagte Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul von der CDU. Kontakte in die rechtsextreme Szene soll Andreas N. nach jüngsten Erkenntnissen aber nicht gehabt haben. Von einem "Vorurteils- beziehungsweise Hassverbrechen" spricht der Soziologe Matthias Quent. Der Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena ist Spezialist für Radikalisierungs-, Rechtsextremismus- und Demokratieforschung. Seiner Meinung nach hatte es Andreas N. "gezielt auf eine bestimmte Statusgruppe abgesehen: People of Color, nicht weiße Menschen, die er für Ausländer hielt."
Die Botschaft der Tat sei klar, schlussfolgert Quent. In seiner Vernehmung habe der mutmaßliche Täter gesagt, "dass die vielen Ausländer ein Problem für Deutschland seien, das er lösen wolle. Damit handelt es sich um eine rassistische Tat, die eine politische Dimension hat." Zudem verbreite die Attacke noch nach der Tat Angst und Schrecken in Teilen der Bevölkerung.
Von einem terroristischen Akt spricht auch der SPD-Politiker Karamba Diaby. Auf Twitter schreibt der Integrationsexperte mit afrikanischem Migrationshintergrund: "Wenn die Motive rassistisch sind, müssen wir auch die richtigen Worte dafür verwenden. Der Anschlag in #Bottrop scheint politisch motiviert zu sein und ist damit #Terror."
Terroristen und Amoktäter sind sich ähnlich
Doch so eindeutig die Politik mehrheitlich Position bezieht, so unklar ist der Einfluss, den die geistige Verfassung des Beschuldigen auf die Tat haben könnte. Der "Kölner Stadtanzeiger" berichtet, dass Andreas N. seit Jahrzehnten unter einer schizophrenen Erkrankung leide. Demnach habe er im Jahr 2005 zeitweilig in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik gelebt. Wo also verlaufen die Grenzen zwischen Amok und Terror? Handelt es sich um einen fremdenfeindlichen Rechtsterroristen oder um einen fehlgeleiteten Geisteskranken? Fragen, die sich derzeit seriös kaum beantworten lassen. Vielleicht auch niemals. Möglich sind derzeit lediglich vorsichtige Einordnungen.
"Meine These ist bislang, ohne dass dies empirisch ausreichend erforscht ist, dass terroristische Einzeltäter und Amoktäter absolut ähnlich sind", sagt die Kriminologin Britta Bannenberg im DW-Gespräch. Ob der Täter ein rechtsextremistisches oder ein islamistisches Motiv habe oder ob "der Amok-Täter alle hasst und die gesamte Gesellschaft ablehnt", beruhe weitgehend auf psychischen Störungen. Diese Einzeltäter seien in der Regel Menschen mit wenig oder keinen Sozialkontakten, erklärt die Professorin von der Justus-Liebig-Universität Gießen.
"Was machen diese also: Sie begeben sich ins Internet in genau diese Welten und Foren, die ihre Ansichten von Hass und Ablehnung stärken." Der Echokammer-Effekt, also das Verstärken bestehender Ansichten durch gleichgesinnte User in den sozialen Netzwerken, und mögliche psychische Erkrankungen gehen in solchen Fällen brandgefährliche Allianzen ein.
Hass auf Gruppen projiziert
Für die Kriminologin Bannenberg lassen erste Hinweise erkennen, dass das Verhalten des mutmaßlichen Attentäters Andreas N. sehr typisch gewesen sei. "Wir haben sehr viele dieser sogenannten Amok-Taten in Deutschland untersucht. Bei den erwachsenen Tätern gibt es interessante Auffälligkeiten", sagt die Forscherin. "Wirklich psychisch gesund sind die alle nicht."
Die Art der psychischen Störung sei zwar unterschiedlich. "Allerdings fiel uns auf, dass über ein Drittel der erwachsenen Täter von 24 bis 70 Jahren eine sehr schwere psychische Erkrankung im Sinne einer paranoiden Schizophrenie aufwiesen und dann in der Regel fremde Menschen attackiert haben", sagt Bannenberg.
Nach den Forschungsergebnissen ihres Lehrstuhls stehen solche Täter der Gesellschaft in der Regel voller Groll und Ablehnung gegenüber. Sie projizierten ihren Hass meist auf bestimmte Gruppen, "ob das nun Ausländer sind, Frauen, Arbeitskollegen oder sonst wer in der Gesellschaft." Eine psychische Störung im Sinne einer Schizophrenie sei eine Wahn-Erkrankung, die Krankheits-Elemente mit Hass-Motiven verbinden könne. Ein Drittel der erwachsenen Amokläufer leidet nach Bannenbergs Angaben unter diesem Krankheitsbild.
Schizophrenie und Persönlichkeitsstörungen
Hinzu kommen nach Forschungen der Kriminologin noch diejenigen, die von Persönlichkeitsstörungen betroffen sind. Solche Täter haben möglicherweise etwas mehr Einsicht in das, was sie tun, etwas mehr Steuerungsvermögen, "aber die verrennen sich genauso fanatisch in die Idee eines spektakulären Tötungsakts."
Bannenberg wirbt deshalb für eine höhere gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit. Wer Interesse zeige, einen Anschlag zu begehen, sich sehr für Amok-Taten und terroristische Akte interessiere und voller Hass sei, "der lässt das in der Regel vielfach Monate vorher erkennen." Dies sollten Verwandte, Freunde und Kollegen frühzeitig der Polizei melden.
Im Falle des Auto-Anschlags von der Silvesternacht können die Behörden allerdings nur noch die Faktenlage sichern sowie über Schuldfähigkeit und Strafmaß verhandeln. Spätestens dann stellt sich wieder die Frage: Was ist blanker Terror, was einem Krankheitsbild geschuldet?