Bilder gegen das Vergessen
19. November 2003Die großen Augen des Jungen blicken ernst. Es sind keine neugierigen, unschuldigen Kinderaugen. Unsicher versucht er zu lächeln. Der Junge auf dem Stuhl befindet sich in einem Flüchtlingslager in Zaire, der heutigen Demokratischen Republik Kongo. Er ist erst vier oder fünf Jahre alt, aber schon ein Flüchtling - geflohen aus Ruanda, weil er zur Minderheit der Tutsi gehört.
Kinder-Schicksale
Dem Elend ein Gesicht geben - das ist das Anliegen des brasilianischen Dokumentarfotografen Sebastiao Salgado. Für seine Serie "Exodus" fuhr er durch 43 Länder in Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa. Sein Ziel: Flüchtlingskinder fotografieren. Neunzig dieser Schwarz-Weiß-Porträts sind in der Bundeskunsthalle Bonn in Zusammenarbeit mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen und der Stiftung "Children for tomorrow" zu sehen.
Hans-Hermann Klare, Leiter des Auslandsressorts beim Magazin "Stern", hat den brasilianischen Fotografen Sebastiao Salgado auf einigen seiner Reisen begleitet. Der Journalist erinnert sich an die Zeit nach dem Völkermord in Ruanda 1994. Damals wurden rund 800.00 Menschen getötet. Tausende von Kindern mussten fliehen und haben ihre Eltern nie wieder gefunden. Klare: "Viele - dieses Kind auch - kamen dann in Waisenhäuser, in denen sie in irgendwelchen Lehmhütten eng bei einander saßen, total verschüchtert und vereinsamt."
Die Geschichte des kleinen Tutsi-Jungen aus Ruanda steht stellvertretend für die etwa 20 Millionen Kinder weltweit, die in Afrika, Asien, Lateinamerika aber auch in Europa auf der Flucht sind. Hans-Hermann Klare bedrückte zwar ihr Elend, doch er findet: "Gerade in Afrika ist es immer wieder bemerkenswert, mit welchem Überlebenswillen die Menschen trotz des ungeheuren Elends, das sie erlebt haben, mit welcher Freude sie ausgestattet sind - und bereit sind, trotz allem von vorne zu beginnen. Und das ist eine Erfahrung, die in der Tat auf einen zurückwirkt. Unsere Probleme scheinen dagegen natürlich erbärmlich zu sein."
Folgende Generationen leiden mit
Flucht bedeutet besonders für Kinder körperliche und seelische Qualen. Viele verlieren ihre Eltern, werden zu Waisen. Sicherheit und Geborgenheit kennen sie nicht. In einem Umfeld, das von Hass und Rache geprägt ist, schwindet ihr Vertrauen in die Welt der Erwachsenen. Deshalb ist es so wichtig, diese Kinder psychotherapeutisch zu betreuen, sagt Hubertus Adam, Medizinischer Leiter der Stiftung "Children for Tomorrow":
"Wir wissen gerade aus der deutschen Geschichte, aus der Holocaustforschung, dass seelische Traumatisierung bei Kindern dazu führt, dass sie auch manchmal Probleme mit den eigenen Kindern haben“, sagt Adam. Seelische Verletzungen würden von Generation zu Generation weitergegeben. "Insofern ist also aktive Hilfe für Flüchtlingskinder auch Friedenspolitik."
Solche Hilfe leistet das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, UNHCR. Es betreut und versorgt die Menschen nicht nur nach ihrer Flucht, sondern versucht sie auch später wieder in ihre Heimat zu begleiten. So konnten beispielsweise nach dem Ende der Taliban-Herrschaft etwa 2,5 Millionen Menschen nach Afghanistan zurückkehren, rund 1,6 Millionen in das vom Bürgerkrieg zerrüttete Angola oder etwa eine Viertelmillion nach Sri Lanka. Helfen kann das aber UNHCR nur mit Spenden. Die fließen vor allem, wenn Kriege die Nachrichten dominieren.
Bilder gegen das Vergessen
Durch die vielen Schreckensmeldungen seien die Menschen allerdings abgestumpft, sagt Stefan Berglund, Repräsentant des UNHCR in Deutschland. Viele haben zudem die Meinung: "Das wird ja nie besser und die in Afrika, die kriegen das sowieso nicht hin." Vor allem werden die Hilfsbedürftigen schlichtweg vergessen, sobald sie nicht mehr im Fernsehen zu sehen sind. So geht auch das Schicksal von Kindern in der Flut von Berichten oft unter. Die Fotos von Sebastiao Salgados sind deshalb auch Bilder gegen das Vergessen.