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Reise

Berlin - meine große Liebe

Anne-Sophie Brändlin18. September 2014

Warum ist es so verdammt schwer sich in eine andere Stadt zu verlieben, wenn man erst einmal in Berlin gewohnt hat? Deutsche Welle-Reporterin Anne-Sophie Brändlin kann ein Lied davon singen.

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Berlin Mauerpark
Bild: DW/A.S. Brändlin

Berlin ist wie eine leidenschaftliche Liebesaffäre. Wenn man zusammen ist, gibt sie dir alles, was du brauchst - und noch viel mehr. Aber wenn man sich trennt, dann kann es länger dauern darüber hinwegzukommen, als einem das lieb ist.

Nachdem ich viele Jahre in der deutschen Hauptstadt gelebt habe, kann ich mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass ich mich so schnell in keine andere Stadt mehr richtig verlieben werde. Glaubt mir, ich habe es wirklich versucht.

Ich hatte kurze Affären mit Weltklasse-Städten wie Sydney, San Francisco und Amsterdam, wo der Sexappeal förmlich aus den Ritzen im Bürgersteig quillt. Aber trotz der Strände, Palmen, Cablecars und Grachtenhäuser kommt keine Stadt an Berlin ran. Warum?

Berlin ist anders

Ja, Berlin verändert sich, viel zu schnell und nicht unbedingt zum Guten. Nur: Berlin verliert trotzdem nicht seinen einzigartigen Charakter. Und das, obwohl sich das Stadtbild permanent verändert, obwohl die Folgen der Gentrifizierung immer spürbarer werden und obwohl die Metropole einer globalen Hipster-Invasion ausgesetzt ist. Aber Berlin bleibt sich treu. Und das bedeutet, dass Dinge in Berlin möglich sind, die es so nirgendwo sonst gibt - nicht einmal in Sydney, San Francisco oder Amsterdam.

Berlin verlassener Vergnügungspark
In Berlin gibt es viele vergessene Orte, die zum Spielplatz für Fotografen werden - wie hier der SpreeparkBild: DW/A.S. Brändlin

Als ich noch in Berlin lebte, bin ich abends oft mit Freunden heimlich auf ein Hausdach geklettert (wenn auch nicht immer ganz legal), um von dort bei einem Feierabendbier den Blick über die Stadt schweifen zu lassen. Sonntagnachmittage habe ich am liebsten in der Sonne tanzend auf einem Open Air verbracht - irgendwo mitten im Wald mit guter Musik, Seifenblasen, Konfetti, billigem Bier und glücklichen Leuten.

Oder ich habe Ausflüge zu einem der vielen verlassenen Orte in Berlin unternommen. Ich war im stillgelegten Vergnügungspark Spreepark, in der Abhörstation aus der Zeit des Kalten Krieges auf dem Teufelsberg und sogar in einer staubigen, alten und verfallenen Klinik mitten in der Pampa, um dort die unheimliche Stille aufzusaugen und Fotos zu schießen.

Die Stadt, die niemals schläft

Wer einmal das Berliner Nachtleben kennengelernt hat, der kann sich danach kaum noch vorstellen, jemals wieder woanders feiern zu gehen. Die Musik und die abgefahrenen Veranstaltungsorte in anderen Städten können einfach nicht mithalten.

In San Francisco machen die Clubs schon um 2 Uhr morgens zu - da fängt die Party in Berlin gerade erst an. In Berlin wird man komisch angeschaut, wenn man mit hohen Schuhen und Minirock antanzt, in Sydney muss man sich aufstylen, um überhaupt in einen Club zu kommen. In vielen Clubs dieser Welt gehört es dazu, auf der Tanzfläche angegrapscht und angerempelt zu werden - nicht in Berlin. Hier lassen die Leute dich in Ruhe und konzentrieren sich lieber auf die Musik.

An einem Montag schläft man in den meisten Städten der Welt entweder seinen Kater aus oder man muss wieder zur Arbeit. Die Clubs sind Anfang der Woche meist geschlossen. Nicht so in Berlin, wo man zu jeder Tages- und Nachtzeit abfeiern kann. Viele andere Hauptstädte lassen sich eher von dem Prinzip "Erst die Arbeit und dann das Vergnügen" leiten. Nicht so Berlin. Hier ist die Freizeit absolut heilig. Manchmal wirkt es schon fast, als würde in Berlin niemand so wirklich arbeiten.

Berlin Badeschiff Sunrise
Sonnenaufgang auf dem Badeschiff - es gibt nichts Besseres nach einer langen PartynachtBild: DW/A.S. Brändlin

Wenn man durch die Stadt flaniert, findet man an jeder Ecke vollgepackte Cafés, Strandbars, Parks und Kanalufer, an denen Leuten zusammen sitzen und Gitarre spielen, grillen, ein Buch lesen, in der Sonne dösen, mit ihren Hunden Gassi gehen oder mit ihren Kindern Drachen steigen lassen. Selbst wenn man als Workaholic nach Berlin kommt - die Stadt bringt dir bei loszulassen. Die Botschaft ist klar: Genieße das Leben und profitiere von dem ausgiebigen Kunst-, Kultur- und Freizeitangebot. Warum nicht an einem Sonntagnachmittag Karaoke im Mauerpark singen? Und gleich weiter durch die Clubs ziehen. Der Montag ist dann noch weit weg. Man lebt ja schließlich nur einmal.

Sammelbecken für Fetische und Eigenarten

Menschen in Berlin sind seltsam. Und das meine ich durchaus positiv. Die Leute in Berlin interessieren sich nicht dafür, wie viel Geld man hat, was für ein Auto man fährt oder welche Klamotten man trägt. Egal wie verschieden Berlins Einwohner sind, sie schaffen das, was so viele Gesellschaften schon lange vergeblich versuchen: ein Leben in friedlicher Koexistenz.

Ein Beispiel: Eines Morgens fuhr ich nach einer durchzechten Nacht um 7 Uhr mit der U-Bahn nach Hause. Ich hatte den Partyglitzer noch im Gesicht und ließ mich müde auf einen Sitz fallen. Neben mir ein hellwacher Geschäftsmann im Anzug, ein Punk mit zerfetzten Hosen und eine Familie mit überdrehten Kindern auf dem Weg zu einem See. Eine ziemlich bunte Mischung. Und so ist es überall in Berlin. Die Stadt hat ein großes Herz und Platz für alle.

Berlin Fetischisten
In Berlin darf jeder sein wie er istBild: DW/A.S. Brändlin

Die Menschen in Berlin haben gelernt, sich gegenseitig zu akzeptieren - mit all den Eigenheiten, die Menschen eben so haben. Es darf auch ein Fetisch sein. Wer gerne die Nacht in einem von Berghains legendären Darkrooms verbringen will, der darf das, ohne dafür schief angesehen zu werden. Wenn jemand den ganzen Tag in einem Tigerkostüm durch die Stadt laufen möchte, dann ist das auch in Ordnung. Berlin ist als "arm aber sexy" bekannt. Ich schlage ein neues Motto vor: "Leben und leben lassen".

Geschichte und politisches Bewusstsein

Natürlich hat Berlin auch eine ernste Seite, die man nicht übersehen darf. Es dürfte schwierig sein eine andere Stadt zu finden, die es geschafft hat, ihre Geschichte so gut ins Stadtbild zu integrieren und sie so stark im kollektiven Bewusstsein der Bewohner zu verankern wie Berlin.

Überall finden sich Erinnerungen an Berlins Geschichte - nicht nur in Form von Museen und Mahnmalen. Wenn man durch Berlins Straßen läuft, reicht schon ein Blick auf den Boden. Ein Band von Pflastersteinen durchzieht die Stadt genau dort, wo einmal die Mauer verlief. Einzelne goldfarbene Pflastersteine haben eine andere Botschaft. Sie markieren, wo eine jüdische Familie gelebt hat, bevor sie deportiert und in ein Konzentrationslager gebracht wurde. Pflastersteine sind Gedenkstätten.

Berlin gedenkt der Opfer des Ersten und Zweiten Weltkriegs sowie denen des Kalten Krieges aktiv und offen. Hier wird nichts verheimlicht, kein Fehler vertuscht. Fast jeden Tag findet irgendwo eine Demonstration, eine politische Lesung oder ein Event statt, bei dem Zeitzeugen ihre persönliche Geschichte erzählen. Man hat hier die einmalige Gelegenheit, Berlins schmerzhafte Geschichte aus erster Hand zu erfahren.

Bildergalerie Bilderrätsel Berlin Holocaust Mahnmal
Das Holocaust Mahnmal - Berlin stellt sich seiner GeschichteBild: Fotolia/stedah

Studenten in Berlin, die nach all diesen historischen Ereignissen geboren wurden, sitzen heute nächtelang zusammen am Küchentisch und diskutieren politische Theorien bei einer Flasche Wein. Und am nächsten Morgen gehen sie dann vielleicht auf die Straße, um zu demonstrieren. Ein Anlass findet sich immer.

Das beste Beispiel dafür ist der erfolgreiche Volksentscheid, bei dem sich die Mehrheit der Berliner Einwohner gegen eine Bebauung des ehemaligen Tempelhofer Flughafens, der zu einem öffentlichen Park umfunktioniert wurde, ausgesprochen hat. Und es wird auch in Zukunft ein Ort sein, an dem Berlins Einwohner ihre Freizeit genießen, grillen - und die nächste politische Aktion diskutieren.

Hochzeitsglocken

Berlin - meine alte Liebe - du wirst immer in meinem Herzen sein. Eines Tages, wenn es in Berlin bessere Jobs gibt, komme ich wieder - in einem weißen Kleid und schwarzen Stiefeln. Und ich werde die Stadt meiner Träume heiraten. Bis dahin genieße ich all die Vorzüge, nicht in Berlin zu leben: kürzere Wege, freundlichere Leute und erträglichere Winter.