Geheime Orte
11. August 2014Deutsche Welle: Herr Steyer, welcher geheime Ort in Berlin beeindruckt Sie am stärksten?
Claus-Dieter Steyer: Die unterirdische Kapelle im Olympiastadion. Wenn man dort hineinkommt, ist alles goldglänzend. 2006 wurde sie gebaut, damit die Fußballspieler vor oder nach dem Spiel beten können. Tatsächlich steht die Kapelle zum großen Teil leer. Man kann dort aber heiraten - für mich ein sehr faszinierender geheimer Ort.
Nach Erscheinen Ihres Buchs sind Orte wie die Kapelle nicht mehr geheim.
Es gibt international viele Foren, die sich mit Lost oder Hidden Places beschäftigen. Diese Szene hat sich als Kriterium gesetzt, geheime Orte nicht genau zu benennen und nur zu sagen: liegt im Norden oder in der Umgebung von Berlin. Ich habe mir mit meinem Buch ein anderes Ziel gesetzt: Ich möchte Ort und Anreiseweg verraten, damit die Leute etwas erleben können. Deshalb habe ich für den Ausflugsführer Orte in allen Berliner Bezirken öffentlich gemacht. Es sind Schauplätze verschiedener Zeitepochen: von vor dem Zweiten Weltkrieg, von Kriegsereignissen, der Nachkriegszeit, des Mauerbaus 1961, des Mauerfalls 1989.
Welche Orte sind das genau?
Es sind Ziele, die in gewöhnlichen Reiseführern und Reiseportalen nicht so ausführlich beschrieben werden und trotzdem sehr spannend sind, etwa der Flughafen Tempelhof. Er wurde 1939 fast fertig gebaut und war damals das größte Gebäude der Welt. Wie bei vielen Bauten in Berlin gibt es dort eine Unterwelt, mehr als 100 Luftschutzbunker, von denen man einige besichtigen kann. Darunter ist auch der Filmbunker, in dem Millionen Aufnahmen der Nazis gelagert waren. Am 2. Mai 1945 sprengte die Rote Armee die Bunkertür - und das Nitro-Film-Material brannte weg wie Zunder. Alles wurde vernichtet. Bis heute sind die Wände voller Ruß davon.
Fast gänzlich unbekannt ist der Schwerbelastungskörper der Nazis in Schöneberg. Er war ein architektonisches Experiment von Speer und Hitler und steht mitten in Berlin, fußläufig vom Bahnhof Südkreuz zu erreichen. Ein Koloss, zwölf Meter oberhalb der Erde und 18 Meter tief. Man kann ihn sogar innen betreten. Gebaut wurde er von französischen Kriegsgefangenen.
Wie sind Sie auf diesen Ort und seine Geschichte gestoßen?
Eigentlich durch Zufall. Ich hatte eine Ausstellung gesehen über die Pläne zur Umgestaltung Berlins zur Welthauptstadt Germania durch die Nazis. Da hieß es, Hitler und Speer hätten Tests durchgeführt, ob der weiche Berliner Untergrund die geplanten monumentalen Gebäude trüge. Dabei war von einem Schwerbelastungskörper die Rede - schon das Wort hat mich fasziniert. An ihm wollten sie prüfen, ob sie einen gigantischen Triumphbogen bauen könnten: dreimal so groß wie der in Paris, mit den Namen aller im Ersten Weltkrieg gefallenen Deutschen versehen. Der Schwerbelastungskörper sank innerhalb von zwei Jahren um nur 19 Zentimeter in die Erde ein, man hätte den Triumphbogen also tatsächlich bauen können - was aber nicht mehr geschah. Später hat man versucht, den massiven Schwerbelastungskörper zu beseitigen. Es gelang nicht. Inzwischen muss man sagen: Gott sei Dank.
Wie haben Sie es geschafft, in umzäunte Orte wie das ehemalige Regierungskrankenhaus der DDR-Führung reinzukommen?
Man muss vor allem freundlich sein. Einige Gebäude werden bewacht. Wer sich anmeldet, bekommt einen ganz anderen Zugang. Manchmal spricht man auch einfach mit den Wachleuten über das Wetter und fragt dann: "Was bewachen Sie denn hier?" Ein Trick ist auch, das Fahrrad mitzunehmen. Radfahrer sind von Natur aus unverdächtig. Wer will, leiht sich dazu in Berlin eines aus.
Aber es gab bestimmt auch Schwierigkeiten?
Wenn es Schwierigkeiten gibt, dann veröffentliche ich den Ort nicht als Ausflugsziel. Es gibt genügend andere geheime Orte, wo Touristen hinkommen können.
Welche Quellen haben Sie für die Geschichten in Ihrem Buch angezapft?
Sehr wichtig sind für mich Zeitzeugen. Ebenso Kirchenarchive, die über die Kriegs- und Mauerzeit hinweg gerettet werden konnten. Auch die Pfarrer wissen oft, wer noch etwas wissen könnte. Eine weitere Quelle sind die kleinen Heimatmuseen vor Ort, die nur ein oder zwei Tage in der Woche geöffnet haben und Schätze der Geschichte hüten.
Wollen Sie mit Ihrem Buch auch auf den Wert einst unzugänglicher oder geheim gehaltener Orte hinweisen, sie vor Zerstörung oder unbemerktem Verfall schützen?
Wenn die Leute sich mit dem Buch auf den Weg machen, passiert es automatisch, dass sie Fragen stellen. Dann müssen sich Politik oder Eigentümer kümmern. Beispielsweise gibt es einen Lokschuppen von 1890, der jetzt langsam verfällt. Man kann sich vorstellen, dass da ein Theater oder eine Gemüsehalle einzieht. Oder es kommt ein Tourist mit meinem Buch dorthin und sagt: "Ich wollte schon immer mal einen Lokschuppen besitzen!" - und macht dann was draus. Das fände ich gut.
Der Berlin-Band ist der aktuellste Teil Ihrer Buchreihe über "Geheime Orte" nach Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg. Woher kommt Ihre Faszination dafür?
Ich komme aus Freiberg in Sachsen, einer alten Bergarbeiterstadt bei Dresden mit vielen unterirdischen Stollen, in die man einfahren kann. Das hat mich vermutlich geprägt. In Brandenburg habe ich dann unterirdisch Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg und vor allem aus der DDR-Zeit entdeckt. Davon wollte ich erzählen. Inzwischen bin ich weltweit auf der Suche nach geheimen Orten.
Meist geht es in Ihrem Berlin-Führer um Schauplätze des 20. Jahrhunderts. Nur die Pfaueninsel, ein Refugium der preußischen Könige, scheint da nicht reinzupassen.
Die Pfaueninsel ist eines der beliebtesten Ausflugsziele, vor allem für West-Berliner. Mit langer Geschichte: einst Königsschloss, 1936 Ort der Abschlussfeier der Olympischen Spiele mit der ganzen Prominenz des NS-Regimes, in den 1960er Jahren Drehort der berühmten Edgar-Wallace-Krimis. Auf der Insel wohnt heute nur der ehemalige Gartendirektor der Schlösserstiftung. Der sagte eines Tages zu mir: Es gibt einen geheimen Ort, einen Weg zum Mittelpunkt der Insel ganz tief ins Erdreich. Der Eingang ist eine Tür an einer alten Eiche, die schon auf Kupferstichen von Anfang des 19. Jahrhunderts auftaucht. Nach dem Schlüssel für die Tür muss man fragen. Ansonsten sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt.
Claus-Dieter Steyer arbeitete nach dem Journalismus-Studium für verschiedene Zeitungen und Agenturen. Nach der Wende 1990 wurde er Redakteur beim "Tagesspiegel". Er hat bereits mehrere Reiseführer über Ostdeutschland geschrieben.
Das Gespräch führte Frederike Müller.