Rittner: "Die jungen Spielerinnen beneide ich nicht"
15. Oktober 2020DW: Frau Rittner, es werden immer mehr Stimmen des Unmuts über den aktuellen WTA-Kalender laut. Australian-Open-Siegerin Sofia Kenin zum Beispiel findet deutliche Worte und sagt, es sei "zum Kotzen, dass die Saison für uns schon vorbei ist". Auch Laura Siegemund stöhnt. Teilen Sie diese Auffassung?
Barbara Rittner: Ich kann den Unmut deshalb verstehen, weil die ATP-Tour [Tennis-Tour der Männer, Anm. d. Red.] es geschafft hat, neue Turniere zu installieren. Die Männer haben bis zu drei Turniere in einer Woche. Gerade wenn man diesen Vergleich zieht, dann ist der Unmut der Spielerinnen verständlich. Denn es gibt keine Jobs, es gibt in diesem Jahr auch nur noch zwei Turniere bei den Frauen, die unglaublich gut besetzt sind. Da hätte etwa Laura Siegemund aufgrund ihrer Weltranglistenposition gar keine Chance mitzuspielen, selbst wenn sie wollte.
Sie hatten angeregt, in Köln sowohl ein Frauen- als auch ein Männerturnier zu veranstalten. Allerdings kam das nicht zustande. Was sind die Gründe?
Wir hatten bei der WTA [Women's Tennis Association] vorgefühlt, hier in der ersten Woche ein Damenturnier zu veranstalten. Die Verantwortlichen haben zwar reagiert, aber sehr träge und haben es uns einigermaßen schwer gemacht. Deshalb hat sich der Veranstalter für zwei Männerturniere entschieden. Die ATP ist, anders als die WTA, forscher vorgegangen. Es gibt ja gewählte Spielervertreterinnen, die müssten jetzt mal auftreten und sich einmischen. Das ist meines Wissens nach noch nicht passiert.
Es gibt derzeit Bestrebungen der Tennis-Verbände, die vielen unterschiedlichen Interessen zu bündeln. Wie sehen Sie diese Entwicklung aus Sicht des professionellen Damen-Tennis?
Ich bin absolut dafür, dass man unter ein Dach kommt. Es kann ja nicht sein, dass eine Spielerin bei einem Turnier keinen späteren Start bekommt, weil die WTA womöglich nicht will, dass diese Spielerin vorher an einem ITF [International Tennis Federation]-Event wie dem Fed Cup teilnimmt. Aufgrund von Corona wird es weniger Turniere geben. Man könnte gemeinsam einen kürzeren Jahres-Kalender erstellen mit mehr größeren Turnieren, bei denen Frauen und Männer spielen. Das dürfte auch für die Zuschauer interessanter sein.
Damit noch mehr Preisgeld ausgeschüttet wird?
Geld ist ja eigentlich genug im Spiel, das dürfte nicht das bestimmende Thema sein. Es geht vor allem darum, die Turniere für alle Seiten attraktiver zu machen.
Die Preisgelder für die Frauen haben sich in den vergangenen Jahren immer mehr denen der Männer angenähert. Wird es noch zu einer vollständigen Angleichung kommen und fänden Sie das gerecht?
Es gab ja auch schon einige Herren, die sich dafür eingesetzt haben. Die gesagt haben: Die Damen leisten vergleichsweise genau das Gleiche. Die Spielzeiten sind ja häufig auch nahezu gleich. Deshalb fände ich es fair - auch aufgrund des Aspekts der Gleichberechtigung. Ich glaube, dass es in die richtige Richtung geht.
Kritiker werfen ein, dass die Männer bei den Grand-Slam-Turnieren Best-of-five-Matches bestreiten müssen, die Frauen aber nur Best-of-three. Damit würden die Männer mehr Leistung erbringen. Können Sie diese Sichtweise nachvollziehen?
Man lässt ja auch nicht die beste 100-Meter-Sprinterin gegen den besten Sprinter antreten. Es würde auch nicht helfen, dass Damen drei Gewinnsätze spielen, weil der Körper der Frauen zwar sehr gut trainierbar, für solch einen Umfang aber nicht gemacht ist.
Sie selbst waren in den 90er-Jahren auf der Damen-Tour unterwegs. Wie haben Sie damals die Akzeptanz des Frauentennis wahrgenommen?
Wir hatten eine starke Generation mit Steffi Graf hierzulande, wo das Damentennis bereits eine hohe Akzeptanz hatte. Aber wir hatten bei den Frauen auch schon einige internationale Stars wie Maria Scharapowa oder Serena Williams. Es gab einige starke Persönlichkeiten. Damen-Tennis war damals vielleicht sogar interessanter als das der Herren, bis der Wechsel zu Roger Federer und Rafael Nadal kam. Diese Zeit habe ich als gleichberechtigt erlebt.
Inwieweit haben sich die Spielerinnen hinsichtlich Auftreten, Selbstbewusstsein und auch sportlicher Leistungsfähigkeit verändert?
Ich finde, dass die Frauen heute selbstbewusster und professioneller auftreten. Das liegt natürlich auch daran, dass das Damen-Tennis viel athletischer geworden ist und die Spielerinnen den Körper besser pflegen und vorbereiten müssen. Deshalb werden sie auch von Beginn an viel besser betreut. Worum ich sie aber definitiv nicht beneide, ist der Umgang mit Social Media.
Was bereitet Ihnen hier konkret Sorge?
Ich bin ja auch in der Jugendarbeit beim Deutschen Tennisbund (DTB) tätig. Und wenn ich bei Lehrgängen sehe, dass die jungen Leute in jeder freien Minute versuchen, auf das Handy zu schauen, dann finde ich das beunruhigend. Alles wird gewertet und bewertet, und die jungen Leute verlieren dadurch ihre innere Ruhe. Sie können fast nie abschalten. Das war bei mir ganz anders. Deshalb sammele ich bei Lehrgängen mittlerweile auch die Handys bei Beginn ein. Und wenn ich dann frage, wie das ankommt, sagen mir 95 Prozent, dass es ihnen guttut.
Gibt es bei den jungen Spielerinnen Veränderungen, die Sie nachdenklich stimmen?
Ich finde, dass die Jugendlichen beschützter und vielleicht auch bequemer sind und sich schwerer damit tun, die eigene Komfortzone zu verlassen. Es fällt ihnen schwerer, den Trainingsort zu wechseln und in eine andere Stadt zu gehen - oder einen Schulwechsel vorzunehmen. Sie wollen zu Hause wohnen, sich mit Freunden treffen, eine normale Schule besuchen, aber gleichzeitig auch Profi sein. Das ist nicht mehr so, wie noch bei der Generation von Angelique Kerber und Andrea Petkovic. Die hatten das noch. Die eigenen Leistungsgrenzen zu verschieben, ist vielfach verloren gegangen.
Sind Sie dennoch zuversichtlich, dass wir neue Weltklasse-Spielerinnen bekommen werden?
Wir hatten ja bereits gute Spielerinnen wie Annika Beck, Carina Witthöft und einige andere, die die Lücke hätten schließen können, die sich in dieser Tenniswelt aber nicht richtig wohlgefühlt haben. Jetzt gibt es wieder eine Generation, die das Potenzial von Kerber und Co. haben könnte. Allerdings muss man denen noch Zeit geben, sich zu entwickeln.
Barbara Rittner zählte während ihrer Karriere von 1989 bis 2004 zu den besten deutschen Spielerinnen. Sie trat 29 Mal für das deutsche Fed-Cup-Team an. 1992 gewann sie an der Seite von Steffi Graf und Anke Huber den Wettbewerb. Am 1. Februar 1993 erreichte sie mit Position 24 ihre beste Platzierung in der WTA-Weltrangliste. Von 2005 bis 2017 war sie Kapitän des Fed-Cup-Teams und seit 2009 ist sie erste Bundestrainerin des Deutschen Tennis Bundes (DTB). In Köln ist Rittner Turnierdirektorin des ATP-Turniers der Männer.
Das Interview führte Jörg Strohschein.