Krawietz/Mies wieder ganz oben
12. Oktober 2020"Das ist unglaublich, das ist irreal. Ich weiß nicht, wie lange es diesmal dauert, das zu realisieren", sagte Andreas Mies nach dem 6:3, 7:5-Sieg an der Seite von Kevin Krawietz im Doppel-Finale der French Open in Paris gegen den Kroaten Mate Pavic und den Brasilianer Bruno Soares. Damit wiederholten die beiden ihren Sensationscoup von 2019, als sie in Roland Garros triumphiert hatten. Dass sie nun ihren Titel verteidigen konnten, ist zwar nicht mehr sensationell, aber durchaus überraschend. Das hatten vorher in Paris nur viel Doppel geschafft.
Einfach clever
Eine Geschichte über die Tennisprofis Krawietz und Mies kann mit dem Aufstieg beginnen, mit dem fulminanten Erfolg im vergangenen Jahr. Sie könnte aber auch beim Discounter Lidl am Regal beginnen oder mit einem schmerzhaften Knie. Vielleicht wäre aber die Erkenntnis, dass man es als Einzelspieler nicht an die Spitze schafft, ein guter Anfang. Tatsächlich sollte diese Geschichte aber mit den Besonderheiten des Doppelspiels im Tennis beginnen und mit einer These: Doppelspieler sind in Wahrheit die Besseren. Oder - die Clevereren.
Doppel: Abwarten hilft nicht
Kevin Krawietz und Andreas Mies haben sich auf Ihrem Weg ins Oberhaus des Welttennis nicht fünf Stunden lang pro Partie auf dem Platz gequält, wie es ihr Landsmann Alexander Zverev im Einzel immer wieder macht. Das aber ist nicht der einzige Beleg für die These. Doppel im Tennis: eine Sache, in der man schnell sein muss, nicht nur mit dem Körper, sondern vor allem im Kopf. In der man auf den Gegner eingehen muss. In der man die Matches nicht mit der Ausdauer an der Grundlinie gewinnt (selbst nicht auf dem langsamen Herbstsand von Paris), sondern mit geschicktem Agieren am Netz. Wer im Doppel den Punkt nicht selbst macht, der - macht ihn nicht. Abwarten hilft nicht.
Vereinshymne und Fahnen im Klub
Als Krawietz und Mies im Frühjahr 2019 wie im Rausch ins Endspiel von Roland Garros vorstießen und gewannen, hatten sie am Ende 56 Unterstützer aus der Heimat in der Zuschauerloge, wie sich Mies im Rückblick erinnert. In diesem Jahr, wo man angesichts der Coronavirus-Pandemie im Hotspot Paris ohnehin staunt, dass dieses Turnier durchgezogen werden konnte, ist das anders sein. Mies aber wird ahnen, dass es für ihn im Heimatverein KHTC Rot-Weiss Köln auch nach diesem Endspiel wieder einen rauschenden Empfang zu Hause geben wird. Eine ausschweifende Party-Nacht in Paris wie 2019 fiel diesmal Corona-bedingt aus. Gefeiert wurde im Hotel, im kleinen Kreis. "Es war ein sehr, sehr lustiger Abend, aber auch sehr entspannt", sagte Krawietz am Sonntag.
Der frühere Bundestrainer Hans-Peter Born hatte nach dem ersten Grand-Slam-Sieg der beiden Deutschen 2019 nicht nur emotionale Worte für den Bundesliga-Profi Mies gefunden, sondern zur Feier des Tages den zumeist rot-weißen Trainingsanzug gegen ein Jackett gewechselt. Dazu: Vereinshymne, Fahnen, applaudierende Ballkinder, die Spalier standen - das ganze Programm. Mies grinste vom Klub im Schatten des Rheinenergie-Stadions im Westen der Stadt bis zum Dom. Und das sind ein paar Kilometer.
Für den 30-Jährigen ist der Erfolg die Belohnung für einen langen Weg. Immer wieder hatten Verletzungen den Spieler, der als Sechsjähriger mit seinem Sport begann und sich wie viele andere über ein Tennis-Stipendium an einem US-College den Schliff holte, zurückgeworfen. Das Knie. Irgendwann war es vorbei mit dem großen Traum von einer Einzelkarriere. Aber Mies war ja immer noch - ein hochtalentierter Tennisspieler.
Sympathiepunkte beim Discounter
Die Partnerschaft mit dem ebenfalls höchst ambitionierten Kevin Krawietz vom TC Grosshesselohe hat sich als Glücksfall erwiesen. "Kevin ist eher der Ruhigere auf dem Platz" verriet Mies im ZDF-Sportstudio. Und nur auf Insistieren der Moderatorin fügte er hinzu: "Er spielt lieber Rückhandvolley als Vorhandvolley. Da geht noch etwas." Der ruhigere Krawietz blieb an dieser Stelle im Interview - ruhig. Die beiden Doppelpartner strahlen auf dem Platz genau das aus, was ein solches Team mitbringen muss: die ideale Mischung aus Entschlossenheit und Spaß, wo sich hochkonzentrierte Phasen mit munterer Lockerheit nach gewonnenen Punkten abwechseln.
Wenn die beiden zusammen und erfolgreich bleiben, kann sich das lohnen: Die beiden US-amerikanischen Zwillingsbrüder Mike und Bob Bryan, die über Jahre die Tour als Doppel dominierten, haben gerade ihre Karriere beendet. Zu lesen ist, dass sie in dieser Zeit mehr als 16 Millionen Dollar an Preisgeldern verdient haben. Kevin Krawietz hatte zu Beginn der Corona-Zeit, als die gesamte Tennis-Tour stillstand und viele nicht weiter wussten, bei Lidl gejobbt und Supermarktregale eingeräumt. Das hat ihm zwar keine Millionen eingebracht. Aber die reiche Sympathie der Tennis-Fans in Deutschland.