Überfluss und Mangel
11. August 2007Über Indien tobt wieder der "Monsun", der alljährliche Ausnahmezustand: Stürme peitschen über Dörfer und Felder, braune Wassermassen überschwemmen die Straßen der Städte. In drei Monaten fallen rund 80 Prozent der jährlichen Niederschläge. Ohne den Monsun müssten das Land und seine 1,2 Milliarden Bewohner verhungern.
Launischer Wohltäter
Doch der Monsun ist ein launischer Wohltäter. Einige Regionen segnet er mehr als reichlich, andere viel zu wenig. Aber nicht die Launen des Himmels, sondern menschliches Handeln ist dafür verantwortlich, dass Indien auf eine schwere Wasserkrise zusteuert.
Die meisten Flüsse und Seen sind so stark verschmutzt, dass ihr Wasser ungenießbar ist. Fast überall nehmen die Grundwasservorräte ab. Konflikte um die schwindenden Wasserreserven häufen sich. In Zukunft benötigt Indien aber noch viel mehr Wasser - für neue Stadtviertel und Industriebetriebe, um Lebensmittel für eine wachsende Bevölkerung zu produzieren.
Mammutprojekt soll Abhilfe schaffen
Abhilfe soll ein gigantisches Wasserbauprojekt schaffen, das im Ministerium für Wasserresourcen geplant wird: die Vernetzung der Flusssysteme des Subkontinents. Mit Hilfe großer Staudämme sollen die stürmischen Flüsse aus dem Himalaya gebändigt und ihr Wasser über Kanäle mehr als 1000 Kilometer weit in den Süden umgeleitet werden.
"Wir beobachten, dass der eine Fluss zu viel Wasser führt, ein anderer dagegen zu wenig, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen", erkärt der pensionierte Ingenieur und frühere Staatssekretär M.G. Padhye. "Hier setzt das Projekt an: Im Prinzip halten wir überflüssiges Flutwasser, dass sonst nutzlos ins Meer fließen würde, in Staubecken zurück und leiten es über Kanäle in Dürregebiete um." Wenn das Projekt erfolgreich verlaufe, so Padhye, stünden Indien 25 Prozent mehr Wasser zur Verfügung, mit denen es zusätzliche 35 Millionen Hektar Land bewässern könnte.
Umweltschützer sind skeptisch
Zwei Unionsstaaten haben bereits eine Vereinbarung über die Realisierung einer ersten Flussumleitung unterzeichnet. Andere Landesregierungen sind eher skeptisch und wollen ihr Wasser nicht mit anderen teilen. Viele Kritiker, unter ihnen Wissenschaftler, Umweltschützer, Bauernverbände, mahnen zur Vorsicht und fordern wissenschaftliche Belege für die Rentabiltät des Projekts. Der Ingenieur Himanshu Thakkar, der in Neu Delhi das Netzwerk "South Asian Network on Dams, Rivers and People" leitet, ist alarmiert: "Die Vernetzung der Flüsse wird katastrophale Folgen haben. Sie wird die Flüsse zerstören, außerdem Wälder und Ackerland vernichten."
Millionen Menschen müssten vertrieben werden, denn das Programm benötige hunderttausende Hektar Land, sagt Thakkar und fügt hinzu: "Stromabwärts der Dämme wird es zur Wasserknappheit kommen, zur Versalzung der Böden, zur Konzentration von Schadstoffen im Flusswasser und schließlich zur Zerstörung der biologischen Artenvielfalt."
Lokale Wasserprojekte als Alternative
In den vergangenen 100 Jahren hat Indien 4291 große Staudämme gebaut. Die damit verbundenen Bewässerungssysteme halfen, die Getreideproduktion zu steigern und das ehemalige Hungerland von Nahrungsmitteleinfuhren unabhängig zu machen. Aber sie entwurzelten nahezu 40 Millionen Menschen und zerstörten vielerorts das ökologische Gleichgewicht.
Dabei gibt es längst Alternativen. "Lokale, traditionelle Wasserbausysteme besitzen ein gewaltiges Potential für die ländliche Entwicklung", sagt Himanshu Thakkar. "Damit meine ich etwa Projekte zur Entwicklung von Wassereinzugsgebieten, die in vielen Regionen Indiens das Leben der Menschen transformieren." Auch die Renovierung von Dorfteichen könne zur Dürrebekämpfung beitragen. "Kurzum, wir müssen die Regenfälle an Ort und Stelle auffangen und speichern und so die Grundwasservorräte wieder auffüllen."