Holocaust-Überlebende tanzt gegen das Vergessen
9. November 2017Eine zierliche Dame mit schönen grauen Augen streift und wirbelt über die Bühne. Éva Fahidi tanzt mit der Euphorie und der Freiheit eines jungen Mädchens. Zwischendurch begibt sie sich mit ihrer sechzig Jahre jüngeren Tanzpartnerin Emese Cuhorka in einen rührenden Dialog, in dem es um Waschmaschinen und Liebesgeschichten geht. Und dann stellt sich Fahidi vorne auf die Bühne und erzählt: Vom Konzentrationslager Auschwitz.
Gerade die jungen Menschen möchte Eva Fahidi, die sich selbst als "Holocaust Aktivistin" bezeichnet, mit ihrer Tanzperformance erreichen. Die Jugend soll erfahren, was damals geschehen ist. Mit Sorge sieht Fahidi den zunehmenden Einfluss der Rechtspopulisten in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Am 9. November, am Tag des Erinnerns an die "Reichspogromnacht", feiert ihr Stück "Strandflieder oder die Euphorie des Seins" seine österreichische Premiere am Wiener Volkstheater.
Tanz sagt mehr als 1000 Worte
Éva Fahidi hat immer schon getanzt. "Ich wusste mein ganzes Leben lang, es ist das Mittel, mit dem ich mich am besten ausdrücken kann", erzählt sie der DW in einem fehlerlosen Deutsch. Fahidi wurde 1925 im ostungarischen Debrecen geboren. In ihrer 2003 erschienen Autobiographie "Die Seele der Dinge" erzählt sie bewegend von einer geborgenen Kindheit, von ihrer jüdischen Großfamilie und ihren Abenteuern auf dem Hof des Großvaters Alfred Weisz.
Die späte Besatzung Ungarns durch die Deutschen im Frühling 1944 besiegelte brutal das Schicksal ihrer Familie. Wie viele ungarische Juden glaubten auch Fahidis Eltern bis 1944, vom Rassenwahn der Nazis verschont zu bleiben. Sie emigrierten nicht. "Ich spielte Klavier, turnte und trieb Sport, als lebte ich auf der Insel der Seligen und nicht in einer der letzten friedlichen Enklaven Europas, über die in wenigen Augenblicken genau dieselbe Hölle wie im übrigen Europa hereinbrechen würde."
Im Juni 1944 wurde ihre Familie nach Auschwitz deportiert. Fahidi, damals 18, überführte man wenig später mit 1000 anderen jungen Ungarinnen nach Deutschland, ins Zwangsarbeiterlager Allendorf, wo sie in einer Munitionsfabrik arbeiten mussten. Fahidi ist überzeugt, dass Tanz und Freundschaft ihr halfen, zu überleben. Im Lager hatten die jungen Frauen - trotz der schweren und gefährlichen Arbeit - immer wieder mal ein Tänzchen gewagt. Den Häftlingen wurde sogar erlaubt, eine richtige Bühne zu bauen, auf der sie Shakespeares ‚Antonius und Cleopatra‘ aufführen durften.
Nicht schweigen über die Massenmorde in Auschwitz
Éva Fahidi überlebte bis zur Befreiung des Lagers - als einzige aus ihrer Familie. 49 Angehörige wurden in Auschwitz ermordet. Das erfuhr sie erst, als sie nach Kriegsende nach Ungarn zurückkehrte. "Mir wurde plötzlich bewusst: Ich war vollkommen allein, hatte niemanden mehr auf der Welt."
In der neuen kommunistischen Gesellschaft war die Erinnerung an den Holocaust unerwünscht. So schwieg Éva Fahidi. 60 Jahre lang. Erst nach der Wende kehrte sie nach Auschwitz zurück und begriff, dass sie nicht mehr still bleiben konnte und wollte. Im Jahr 2003 erschien ihre Autobiographie "Die Seele der Dinge". Heute reist die 92-Jährige durch ganz Europa, um über das, was sie erlebt hat, zu erzählen. 2015 hielt sie vor dem Deutschen Bundestag eine bewegende Rede zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz.
Hundertmal tanzen für den Frieden
Vor allem durch ihr Tanzstück "Strandflieder oder die Euphorie des Seins" wurde Fahidi weltberühmt. Eigentlich hatte sie das Stück nur einmal spielen wollen, zu ihrem 90. Geburtstag. Sie widmete es ihrem Enkelsohn, der nicht gerne liest. Das Theater war binnen kurzer Zeit ausverkauft. Seitdem tanzen Fahidi und ihre Partnerin Cuhorka dreimal im Monat im Budapester Theater "Vígszínház". Insgesamt haben sie das Stück bereits 54 Mal aufgeführt - in ganz Europa und auch mehrmals in Deutschland. Ihr Ziel: Hundertmal auftreten.
Wenn man sie fragt, was sie mit ihrem Tanztheater-Stück vermitteln möchte, erzählt Fahidi vor allem von ihren Sorgen um Europas Zukunft. Sie möchte gerade die junge Generation dazu bewegen, für ein freiheitliches und friedliches Europa zu kämpfen. "Ich glaube an die Jugend. Meine Generation hat so viel falsch gemacht. Aus unseren Fehlern und Erfahrungen soll die Jugend lernen!" Gerade Éva Fahidi weiß, dass Selbstverständlichkeiten zerbrechlich sind und nichts, auch nicht der Frieden in Europa, gegeben ist.
Und was hat es mit dem "Strandflieder" auf sich? Fahidi sagt, es erinnere sie an die Kindheit auf dem Gehöft des Großvaters. Und sie erklärt, dass diese Pflanze mit den zarten lila Blüten auch auf salzhaltigen, windgepeitschten Böden gedeihen kann. Das lässt einen an Éva Fahidi selbst denken, an eine Frau, die das Grauen des zwanzigsten Jahrhunderts erlitten hat und die trotzdem wieder aufsteht, wirbelt und tanzt.