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Ägypten am Scheideweg?

21. November 2011

In Ägypten haben neue Unruhen in Kairo und anderen Städten zahlreiche Tote gefordert. Die gewaltsame Konfrontation zwischen Protestbewegung und Militär stellt den Demokratisierungsprozess in Frage. Wohin steuert Ägypten?

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Jugendliche werfen Steine auf Polizisten in Kairo am 20.11.2011 (Foto: dpa)
Unruhen in Kairo am 20. NovemberBild: picture-alliance/dpa

Auslöser für die Gewalt war ein vor kurzem bekannt gewordenes Papier der vom Militär ernannten Übergangsregierung. Daraus geht hervor, dass die ägyptische Armee auch künftig weder einer parlamentarischen Kontrolle noch der zivilen Gerichtsbarkeit unterstellt werden soll. Kein Wunder, dass sich immer mehr Menschen fragen, wie ernst es der Armeeführung mit einem demokratischen Umbau Ägyptens ist. "Der Oberste Militärrat hat seit Wochen und Monaten mit einem massiven Glaubwürdigkeitsproblem zu kämpfen und dementsprechend groß ist das Frustrationspotential in den unterschiedlichen politischen Lagern", sagt der Politikwissenschaftler Thomas Demmelhuber, der sich seit vielen Jahren mit den Machteliten am Nil beschäftigt. Auf der einen Seite geht es den Anhängern der ägyptischen Opposition nicht schnell genug: Sie fordern einen verbindlichen Zeitplan für eine komplette Machtübergabe des Militärs an eine zivile Regierung.

Machtpoker am Nil

Demonstrant mit Gasmaske flieht vor einer Tränengaswolke am 20.11.2011 (Foto: dpad)
Straßenschlacht in der Nähe des Innen-MinisteriumsBild: dapd

Auf der anderen Seite steht die Generalität, die ihre Sonderstellung in der ägyptischen Gesellschaft und Politik zementieren will. Für Andreas Jacobs von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Kairo wird dieser Konflikt und die ohnehin aufgeladene Stimmung im Land gezielt angeheizt: "Viele Ägypter - vor allem die säkularen Kräfte - haben gar kein Problem damit, dass das Militär eine wichtige Rolle im Land spielt. Aber die Islamisten haben die Veröffentlichung dieses Papiers ausgenutzt, um sich selbst als die einzige und wahre Oppositionskraft zu inszenieren - und sie hatten damit auch einigen Erfolg."

Andreas Jacobs (Foto: KAS)
Andreas Jacobs, Konrad Adenauer Stiftung KairoBild: Konrad Adenauer Stiftung

Derzeit hat die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei der Muslimbruderschaft in Meinungsumfragen die Nase vorn: Zwischen 30 und 40 Prozent der Ägypter wollen ihnen bei den Wahlen Ende November ihre Stimme geben. Und bis zu zehn Prozent der Wähler könnten sich sogar vorstellen, für die radikalen Salafisten zu stimmen.

Trotzdem glaubt Jacobs nicht daran, dass sich an den Machtstrukturen im Land grundlegend etwas ändern wird – selbst dann nicht, wenn die Islamisten die stärkste Fraktion im neu gewählten Parlament stellen sollten. Er erinnert daran, dass seit den 1950er Jahren in Ägypten stets das Militär das Sagen hatte. Das sei lediglich durch den Anschein einer zivilen Regierung unter dem ehemaligen Luftwaffen-Offizier Mubarak verdeckt worden: "In den westlichen Medien wird nicht ausreichend wahrgenommen, dass während der Revolution lediglich das Management ausgetauscht worden ist und danach die Militärs als die wahren Machthaber Ägyptens wieder zum Vorschein kamen", so Jacobs.

Mehr Kontinuität als Wandel

Noch weiß niemand genau, wer künftig den politischen Ton in Ägypten angeben wird. Die Protagonisten des Aufstands gegen Mubarak werden es aber wohl nicht sein: Ihre Parteien liegen in Meinungsumfragen weit abgeschlagen. Vieles spricht dafür, dass auch künftig an den alten Machteliten aus Wirtschaft und Militär kein Weg vorbei führen wird, meint der Politologe Thomas Demmelhuber: "Die Wirtschaftseliten haben bereits in den letzten Jahren der Herrschaft Mubaraks eine sehr prominente Rolle gespielt. Es ist falsch davon auszugehen, dass diese Gruppe der unternehmerischen Eliten in der Post-Mubarak-Phase marginalisiert wird. Hier sehen wir eher Prozesse der Kontinuität als Prozesse eines radikalen Umbruchs." Obwohl gegen bekannte Unternehmer der Mubarak-Ära wie den Stahlbaron Achmed Ezz bereits medienwirksame Gerichtsverfahren angestrengt worden seien, sieht Demmelhuber hier unter dem Strich keinen substantiellen Wandel.

Ägyptische Polizisten mit Helmen, Schutzschilden und Schlagstöcken in einer Tränengaswolke (Foto: dapd)
Polizisten auf dem Tahrir-Platz am 19. NovemberBild: dapd

Und von einer "Revolution" im klassischen Sinne könne im Fall Ägyptens ohnehin keine Rede sein: "Eine Revolution - verstanden als radikaler Bruch mit der Vergangenheit und der institutionellen Ordnung - liegt im Falle Ägyptens nicht vor. Wir haben einfach einen Prozess eines systemischen Wandels, wo wir einen Austausch von gewissen Elitengruppen haben; wo die Mubarak-Familie und deren engster Klientel- und Beraterstab ausgetauscht und ersetzt wurde durch ein Elitensegment, das vorher auch schon Teil des Systems war: den Obersten Militärrat."

Umfragen und Verschwörungstheorien

Nach den jüngsten Gewaltexzessen wird in Ägypten laut über eine Verschiebung der Wahlen nachgedacht. Von geheimen Absprachen der Muslimbrüder mit der Armeespitze über die Verteilung von Geld und Macht ist auf den Straßen und in den Teehäusern Kairos die Rede, Verschwörungstheorien machen die Runde. Für Thomas Demmelhuber ist das keine Überraschung. Er erinnert daran, wie wenig die Öffentlichkeit über den Machtpoker hinter den Kulissen weiß: "Wir wissen noch nicht einmal, wer hinter den jüngsten Gewaltausbrüchen steckt. Und wer weiß, wenn es tatsächlich Kräfte innerhalb des ägyptischen Militärs gäbe, die gar keine Wahlen wollen? Permanente Instabilität wäre da ein sehr gutes Argument, um die Wahlen noch abzusagen."

Autor: Thomas Kohlmann
Redaktion: Daniel Scheschkewitz