Wie stark befahrene Straßen das Artensterben beschleunigen
23. Oktober 2024Egal, ob sie im Bett liegt, fernsieht oder gerade kocht: Wenn der Anruf kommt, muss Laurie Speakman sofort los. Denn es gilt, schnell zu handeln, bevor das Fleisch schlecht wird. Speakman sammelt für Alaskas Elch-Verband überfahrene Tiere ein. Das heißt etwa, mitten in der Nacht einen 450 Kilogramm schweren Elchkadaver auf ihren Lastwagen zu wuchten. Doch für die "Elchdame" - so ihr Spitzname - ist die Gewissheit, dass das überfahrene Tier nicht verschwendet wird, die Mühe wert.
Denn das Fleisch der Tiere wird anschließend von Wohltätigkeitsorganisationen an Bedürftige verteilt. Speakman erinnert sich an einen Besuch bei einer älteren Dame, die vor Freude über das Fleisch weinte. "Es hat mich sehr gefreut, dass ich diesen Menschen helfen kann, etwas zu essen zu bekommen", sagt Speakman.
In den vergangenen Jahrzehnten haben immer mehr US-Bundesstaaten Gesetze erlassen, die das Sammeln bestimmter überfahrener Tiere erlauben. In West Virginia gibt es sogar ein jährliches "Roadkill-Festival", bei dem Leguan-Nachos, Elch-Fajitas, Hirschdärme oder Eichhörnchensoße auf der Speisekarte stehen.
Straßen als Todesfalle für Wildtiere
Zwar werden auf diese Weise Lebensmittel verwertet, die andernfalls auf einer Mülldeponie oder in einer Verbrennungsanlage landen würden, doch gegen die enormen Umweltauswirkungen des Tier-Tods auf der Straße helfen solche Aktionen nicht.
Für eine britische Studie untersuchten Forscherinnen und Forscher 150 Säugetierbestände aus 69 verschiedenen Arten weltweit - und fanden heraus: Bei einem Drittel der Bestände war der Zusammenstoß mit einem Fahrzeug die häufigste Todesursache - noch vor dem Tod durch Jagd oder Krankheiten.
"Wir befinden uns mitten im sechsten Massenaussterben in der Geschichte unseres Planeten, und der Verkehrstod ist wirklich einer der Hauptgründe dafür", sagt Ben Goldfarb, Umweltjournalist und Autor eines Buches über die Auswirkungen von Straßen auf Pflanzen und Tiere.
In den USA, dem Land mit dem größten Straßennetz der Welt, werden täglich schätzungsweise mehr als eine Million Tiere durch Fahrzeuge getötet. Weltweit sind die Zahlen schwieriger zu ermitteln, aber Forschende gehen davon aus, dass sie in die Milliarden gehen.
"In den USA haben wir Ozelots und Florida-Panther, die wir sehr schnell verlieren. In Brasilien sind es Mähnenwölfe und Riesenameisenbären, im Nahen Osten ist es der asiatische Gepard, der vom Aussterben bedroht ist", berichtet Goldfarb. Die vielen kleinen Opfer des Straßenverkehrs, wie Insekten und Vögel, blieben zumeist weitgehend unbemerkt, sie seien aber nicht weniger wichtig für die lokalen Ökosysteme.
Straßen behindern Tiere bei der Nahrungssuche
Zusammenstöße sind jedoch längst nicht die einzige Bedrohung für Wildtiere. Schnellstraßen und Autobahnen zerschneiden die Landoberfläche der Erde drastisch und stellen große Barrikaden für wandernde Tierarten dar.
Hirsche und Rehe sind wie Elche und Antilopen Wandertiere, die oft Hunderte von Kilometern zwischen ihren saisonalen Lebensräumen zurücklegen, um Nahrung zu finden. In Wyoming haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beobachtet, dass Rehe aufgrund des nahezu ständigen Verkehrs Autobahnen schlicht nicht überqueren können. In manchen Jahren habe dies dazu geführt, dass 40 Prozent der Herde verhungert sei, erzählt Goldfarb.
Und die zunehmende Häufigkeit und Schwere von Dürreperioden aufgrund des menschengemachten Klimawandels könnte die Zahl der überfahrenen Tiere noch erhöhen. So fanden Forschende heraus, dass in wärmeren Ländern wie Australien, die Zahl der im Verkehr getöteten Tiere in Dürreperioden tendenziell höher ist. Denn dann machen sich viele Tiere, beispielsweise Kängurus, in neue Gebiete auf, um Nahrung und Wasser zu finden.
Wenn Autostraßen Tiere zu Inzest zwingen
In der Nähe von Los Angeles wiederum haben Straßen den Lebensraum von Berglöwen auf ein so kleines Gebiet beschränkt, dass die Tiere gezwungen sind, sich mit engen Familienmitgliedern zu paaren. "Dadurch haben sie genetische Defekte erlitten", so Goldfarb. "Wir haben Autobahnen, die buchstäblich die DNA der Tiere verändern. Der Gedanke daran ist erschütternd."
Abgesehen von den Autoabgasen verschmutzen Straßen auch die lokale Umwelt erheblich: Reifenpartikel gelangen in Gewässer und töten Fischbestände; Streusalz verunreinigt Flüsse und Seen oft so stark, dass in der Folge ganze Wasser-Ökosysteme geschädigt werden.
Wildtier-Brücken gegen den Tod auf der Straße
Gegen derlei Umweltauswirkungen würde nur ein Weniger an Autoverkehr helfen. Doch was den Unfalltod auf der Straße betrifft, gibt es verschiedene Projekte, die diesen verhindern. Tunnel, Brücken und Korridore, die oberhalb und unterhalb von Straßen gebaut werden, können Tieren das sichere Durchkommen zwischen ihren Lebensräumen zu ermöglichen, die von Straßen zerschnitten werden.
Diese so genannten Wildtierkorridore gibt es in vielen Formen und Größen. So ermöglichen beispielsweise Grünbrücken Rehen und Bären eine sichere Passage, Tunnel machen das für Dachse und Füchse möglich.
Von einer Bienenautobahn in Norwegen über eine Krabbenbrücke auf der australischen Weihnachtsinsel bis hin zu einer Unterführung für Pinguine in Auckland in Neuseeland gibt es solche Tierkorridore mittlerweile an ganz verschiedenen Orten.
"In der Stadt, in der ich lebe, haben wir unter einer unserer Straßen einen Salamander-Tunnel mit einem Mini-Zaun, der die Salamander zu diesem Tunnel hinführt", erzählt Bridget Donaldson, Wildtierforscherin der Verkehrsbehörde im südöstlichen US-Bundesstaat Virginia. "Er führt sie zu einem Feuchtgebiet, das sie saisonal nutzen."
Donaldson und ihr Team fanden heraus, dass das Anbringen von 2,40 Meter hohen Wildschutzzäunen an verschiedenen Querungsstellen die Zahl der von Autos angefahrenen Tiere deutlich reduziert. "Wir konnten feststellen, dass die Zahl der Unfälle mit Wildtieren, insbesondere mit Rehen, an diesen Stellen um 92 Prozent zurückging", berichtet die Wildtierforscherin. Nach Recherchen von Umweltjournalist Ben Goldfarb können Zäune und gut gestaltete Übergänge die Zahl der überfahrenen Tiere um mehr als 80 Prozent verringern.
Neue Straßen ökologisch sensibel gestalten
Bis zum Jahr 2050 werden schätzungsweise 25 Millionen Kilometer Straßen zu den weltweit bereits bestehenden 36 Millionen Kilometern hinzukommen. Dieser massive Ausbau der Straßeninfrastruktur müsse auf ökologisch sensible Weise erfolgen, fordert Goldfarb.
Dafür müssten nicht nur weniger Straßen gebaut, sondern bestimmte kritische Lebensräume komplett umgangen werden. Dort wo gebaut werde, müssten Wildtierübergänge, also Über- und Unterführungen eingerichtet werden, damit Tiere Autostraßen sicher passieren können.
Viele neue Bauprojekte befänden sich in Entwicklungsländern, die Hotspots für die biologische Vielfalt seien, ergänzt der Umweltjournalist. "Ich halte es für wirklich wichtig, dass diese Länder beim Ausbau ihrer Infrastruktur die Fehler vermeiden, die wir in Nordamerika und Westeuropa gemacht haben."
Mitarbeit: Holly Young
Adaption aus dem Englischen: Jeannette Cwienk
Quellen unter anderen:
Demographic effects of road mortality on mammalian populations, Biological Reviews: https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1111/brv.12942
When wildlife safety turns into a fierce political debate, High Country News: https://www.hcn.org/issues/52-1/wildlife-when-wildlife-safety-turns-into-fierce-political-debate/