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Politik

Wer ist schuld am Pogrom von Jedwabne?

9. Juli 2021

Am 10. Juli 1941 wurden Hunderte jüdische Einwohner der von den Deutschen besetzten polnischen Stadt Jedwabne bei lebendigem Leib verbrannt. Die Frage, wer für das Pogrom verantwortlich ist, polarisiert Polen bis heute.

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Polen | Ortsschild von Jedwabne
Das Ortsschild der nordostpolnischen Kleinstadt Jedwabne, wo das Pogrom am 10. Juli 1941 stattfandBild: Monika Sieradzka/DW

In die 1600-Einwohner-Kleinstadt Jedwabne, 170 Kilometer nordöstlich von Warschau, verirren sich Touristen selten. Aber jedes Jahr im Juli erscheinen dort Besucher, um der hier am 10. Juli 1941 ermordeten jüdischen Männer, Frauen und Kinder zu gedenken. Die meisten kommen von außerhalb, die Einwohner Jedwabnes selbst haben kaum Interesse an dem Gedenken.

Auch für die Stadtverwaltung sind die jüdischen Opfer kein Thema. "Nein, auch in diesem Jahr sind wir bei den Feierlichkeiten nicht dabei", sagt Jedwabnes Bürgermeister Adam Niebrzydowski in einem kurzen Telefongespräch mit der DW. Ausführlicher will er sich nicht äußern.

Polen | Mahnmal von Jedwabne
Gedenkstein zur Erinnerung an die Opfer des Pogroms vom 10. Juli 1941 in JedwabneBild: Monika Sieradzka/DW

Zum Zeitpunkt des Massakers befand sich Jedwabne erst seit wenigen Tagen unter Kontrolle der deutschen Wehrmacht. Zuvor war das Städtchen fast zwei Jahre lang von sowjetischen Truppen besetzt gewesen, nachdem Polen im September 1939 zwischen Deutschland und der UdSSR aufgeteilt worden war. Am 22. Juni 1941 hatte Hitlerdeutschland die Sowjetunion überfallen und war auch in den bis dahin sowjetischen okkupierten Teil Polens einmarschiert.

Am 10. Juli 1941 wurden die Juden von Jedwabne auf den Marktplatz getrieben. Einige Männer wurden gezwungen, ein Lenin-Denkmal zu zertrümmern und einen spöttischen "Leichenzug" zu veranstalten. Dann wurden sie ermordet und mit den Überresten des Denkmals in einer Scheune am Rande der Stadt begraben. Anschließend wurden die auf dem Marktplatz versammelten restlichen jüdischen Männer sowie die Frauen und Kinder in dieselbe Scheune getrieben und das Gebäude in Brand gesetzt.

Wer trägt die Schuld?

Für den Mord an den Juden von Jedwabne verurteilte ein polnisches Gericht 1949 elf polnische Täter zu Gefängnisstrafen und einen zum Tode. Die Todesstrafe wurde später in eine Haftstrafe umgewandelt. Die Historiker sind sich uneins, ob und in welchem Maße die polnischen Einwohner Jedwabnes von den deutschen Besatzern zu der Mordtat angestachelt wurden.

Polen | Mahnmal von Jedwabne
Am Gedenkstein: Fotos von Jüdinnen und Juden, die vor dem Zweiten Weltkrieg in Jedwabne gelebt hattenBild: Monika Sieradzka/DW

Der US-amerikanische, aus Polen stammende Historiker Jan Tomasz Gross wies im Jahr 2000 in seinem Buch "Die Nachbarn" den Polen die ganze Schuld zu - und sorgte damit für große Aufregung im Land. Er schrieb fälschlicherweise von 1600 Opfern; inzwischen weiß man, dass es ungefähr 340 waren.

Es geht nicht nur um Jedwabne

Mehrere polnische Holocaust-Forscher und Polens staatliches Institut für nationales Gedenken in Warschau vertreten die These einer deutschen Initiierung. Dabei stützen sie sich auf Zeugenaussagen aus dem polnischen Prozess von 1949. Deutsche Geheimdienstler sollen sich im Vorfeld mit lokalen polnischen Rädelsführern in Jedwabne abgesprochen haben, deutsche Militärpolizisten waren bei der Tat anwesend.

Polen Gedenkstätte in Jedwabne
Die Stelle, an der die Scheune stand, in der die Jüdinnen und Juden Jedwabnes verbrannt wurdenBild: picture-alliance/dpa/E. Krafczyk

Doch das Massaker in Jedwabne war kein Einzelfall. In den östlichen Gebieten Polens, die im Sommer 1941 von Deutschland im Rahmen der Aktion "Barbarossa" besetzt wurden, fanden mehrere Pogrome gegen Juden statt. In vielen Fällen war die einheimische Bevölkerung beteiligt.

Motivation: Plünderung

Laut Andrzej Zbikowski vom Zentrum für Holocaustforschung in Warschau wurden die Täter durch den zu erwartenden materiellen Nutzen durch Plünderung von jüdischem Eigentum motiviert. Rache für die vermeintliche Zusammenarbeit der jüdischen Bevölkerung mit den sowjetischen Besatzern war demnach ein weiteres Motiv.

Deutsche u. sowjetische Soldaten Polen 1939
Deutsche und sowjetische Soldaten in Polen am 20. September 1939Bild: picture-alliance/akg-images/Ehlert

"Manchmal wurde der Pogrommob von Polen angeführt, denen die Sowjets Unrecht getan hatten. Es waren ehemalige Häftlinge oder Ausbrecher aus den letzten Transporten, die zur Deportation in die Sowjetunion vorbereitet worden waren. Aber auch Verschwörungstheoretiker waren dabei", erklärt Zbikowski im Gespräch mit der DW.

Geschichte wird schöngefärbt

"Die deutschen Entscheidungsträger versuchten also, antisemitische Stimmungen auf lokaler Ebene für sich zu nutzen", so der Holocaustforscher weiter. "Auf diese Weise wurden die lokalen Pogrome zu einem wichtigen Teil der sich rasch entwickelnden Spirale von Vernichtungsaktionen, die zur totalen Auslöschung der jüdischen Bevölkerung Polens führten."

Beginn 2. Weltkrieg Deutsche Soldaten Schlagbaum polnische Grenze
Deutsche Soldaten zerstören am 1. September 1939 einen polnischen Schlagbaum an der bisherigen GrenzeBild: picture-alliance/dpa

Heute ist der damalige Marktplatz von Jedwabne, wo die Juden 1941 zusammengetrieben worden waren, eine Grünanlage mit Bänken und Blumenrabatten. Nichts erinnert an die tragischen Ereignisse von damals. An die polnischen Opfer der sowjetischen Lager dagegen erinnert ein Denkmal. Die Zwangsdeportation ist auch auf einem großen Graffiti mitten in der Stadt zu sehen, das im vergangenen Jahr vom Bürgermeister eingeweiht wurde.

Polen als Helden

Diese Art der Geschichtsdarstellung ist im Nordosten Polens populär. In der benachbarten Stadt Wizna, zwölf Kilometer weiter südlich, wo es im Juni 1941, gleich nach dem deutschen Einmarsch, zu einem ähnlichen Pogrom wie in Jedwabne gekommen war, zeigen haushohe Graffitis zu Helden stilisierte polnische Soldaten und Deutsche in Uniformen, die einen Juden töten. Die Graffiti-Initiative stammt von einem der sich als patriotisch verstehenden Vereine, die oft von lokalen Politikern unterstützt werden.

Polen | Graffiti in Jedwabne
Graffiti in Jedwabne: Polen werden in die Sowjetunion deportiertBild: Monika Sieradzka/DW

Die Geschichtspolitik, die Polen entweder als Opfer oder Helden darstellt und die Juden nur als Opfer der Deutschen sieht, wird auch von der heute im EU-Mitgliedsstaat Polen regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) betrieben. Im Nordosten des Landes, wo Jedwabne liegt, hat PiS eine ihrer wichtigsten Wahlhochburgen.

Diskomusik und Kirchenglocken stören das Kaddisch

Über polnische Mittäterschaft zu sprechen, verlangt in Polen Mut. Als Premierminister Mateusz Morawiecki (PiS) 2018 zum ersten Mal von Polen sprach, die die Juden von Jedwabne "ermordet haben", erntete er auch im eigenen nationalkonservativen Lager heftige Kritik.

Polen Premierminister Mateusz Morawiecki
Polens Premierminister Mateusz Morawiecki (PiS)Bild: Wojciech Olkusnik/PAP/picture alliance

Das war früher nicht anders. Als 2001 die Debatte über die polnische Mitschuld an Judenmorden im Zweiten Weltkrieg begann und sich der damalige Präsident Aleksander Kwasniewski bei den Verwandten der Opfer von Jedwabne entschuldigte, war diese Geste in der Stadt alles andere als willkommen. Während des jüdischen Totengebets Kaddisch, das am Ort des Massakers stattfand, erschallte aus nahe liegenden Wohnungen laute Diskomusik. Und der Pfarrer ließ just in diesem Moment die Kirchenglocken läuten.

Ein Bürgermeister, der emigrieren musste

Jedwabnes damaliger Bürgermeister Krzysztof Godlewski, der als einer der wenigen Einheimischen zu den Feierlichkeiten kam, machte sich damit viele Feinde. "Er wurde beleidigt und verspottet. Immer wieder fand er jüdische Kippas in seinen Taschen und wurde aufgefordert, sie öffentlich zu tragen. Er wurde als Jude oder Judendiener beschimpft", erinnert sich eine damalige Mitstreiterin. Sie will anonym bleiben, da sie befürchtet, mit ihren Aussagen ihrem Sohn zu schaden, der gerade auf Arbeitssuche sei.

Polen | Denkmal in Jedwabne
Grünanlage mit Bänken und Blumenrabatten: Denkmal für die Opfer der sowjetischen Zwangsdeportationen in JedwabneBild: Monika Sieradzka/DW

Dem Bürgermeister Godlewski wurde das Leben so schwer gemacht, dass er nach zehn Jahren und fast drei Wahlperioden sein Amt niederlegte und in die USA emigrierte. Seine Ehefrau antwortet auf Anfrage der DW, dass ihr Gatte seit einigen Jahren keine Interviews mehr gebe.

Die Mauer des Schweigens

Der Warschauer Historiker Andrzej Zbikowski ist über diese Mauer des Schweigens nicht verwundert. Schuld daran sei zum Teil die derzeitige Regierung: "Die PiS geht mit der Geschichte oberflächlich und einseitig um, es gibt dabei keine Reflexion und kein Nachdenken", so Zbikowski. Zudem seien die lokalen Gemeinschaften in Nordostpolen der Ansicht, dass sie keine Debatte über die polnische Mitschuld am Holocaust bräuchten.

"Auf der lokalen Ebene weiß jeder alles, auch welche polnische Familie nach den Pogromen welche jüdische Wohnung übernommen hat. Erst die dritte oder vierte Generation wird darüber diskutieren, und das auch nur dann, wenn sich herausstellt, dass nicht der eigene Großvater beteiligt war, sondern ein anderer Einwohner." Deshalb ist der Historiker skeptisch, ob es in Polen überhaupt in absehbarer Zeit zu einer Aufarbeitung dieses Kapitels der polnischen Geschichte kommen wird.

Porträt einer Frau mit kurzen blonden Haaren und blauen Augen
Monika Sieradzka DW-Korrespondentin in Warschau