Wenn auf dem Schulhof das Wort "Jude" fällt
20. November 2018Wenn es einen Antisemitismusbeauftragten speziell für die Schulen in Nordrhein-Westfalen geben müsste, wäre Florian Beer ein heißer Kandidat. Der 40-jährige Bildungsgewerkschafter ist nicht nur Lehrer an einem Abendgymnasium im Ruhrgebiet, er reist auch viel durch die Region und hält Vorträge zum Thema "Antisemitismus an Schulen". Es ist Beers Leib- und Magenthema geworden - und er hat derzeit jede Menge zu tun: "Wenn man die Schüler fragt, warum Sie zu Mitschülern 'Du Jude' sagen, erzählen sie, das sei doch nur ein Schimpfwort und steht für 'Du Verräter'. Natürlich ist das antisemitisch, aber von den Schülern oftmals gar nicht antisemitisch gemeint."
Der Antisemitismus in Deutschland wächst wieder - gerade im Netz. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Anzahl der antisemitischen Online-Kommentare fast verdreifacht. Nutzer seien im Internet kaum noch vor judenfeindlichen Texten sicher, lautet das Ergebnis einer Studie der Technischen Universität Berlin. Mittlerweile werde Antisemitismus selbst in der Mitte der Gesellschaft und bei gebildeten und links eingestellten Nutzern akzeptiert. Das schwappt auch zu den Schulen, Menschen wie Beer arbeiten dagegen an: "Viele jüdische Jugendliche trauen sich nicht mehr, die Kippa aufzusetzen oder tragen sie generell nicht. Wenn sie das Schulgelände verlassen, ziehen sie sich eine Basecap oder eine Kapuze drüber, weil sie Angst haben."
Antisemitismusbeauftragte jetzt auch in den Bundesländern
Nordrhein-Westfalen hat gerade erst den Posten eines Antisemitismusbeauftragten geschaffen - und ihn prominent mit der ehemaligen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger besetzt. Die Zahl der antisemitischen Straftaten ist im größten deutschen Bundesland um neun Prozent auf 324 im Vorjahr gestiegen. Zu viele, denkt sich auch das NRW-Schulministerium, das dazu aufgerufen hat, diese Straftaten gerade bei Volksverhetzung sofort zu melden. Florian Beer ist da gespalten: "Einerseits ist das natürlich vollkommen richtig, aber ich halte es trotzdem für problematisch, weil ich in dem Moment, in dem ich einen Schüler anzeige, das pädagogische Verhältnis beende."
Beer, der mit einer Jüdin verheiratet ist, setzt da lieber auf Prävention. Der Gymnasiallehrer fährt mit seinen Klassen, in der mehr als jeder Zweite einen Migrationshintergrund hat, in die KZ-Gedenkstätten von Sachsenhausen oder Auschwitz. Bei den Schülern löst das sehr viel aus: "Die meisten sind dann einfach nur still. Und manche halten den Besuch auch gar nicht aus." Es dürfe allerdings nicht dazu kommen, dass die Schüler durch einen Besuch in einem ehemaligen Konzentrationslager traumatisiert werden, warnt Beer: "Wichtig sind immer ausgebildete Pädagogen und eine gute Vorbereitung. Und man darf die Schüler auf gar keinen Fall zu einem Besuch zwingen."
Holocaust auch als Verantwortung für die Neubürger
In Deutschland ist der Holocaust ab der neunten Klasse verbindlicher Unterrichtsstoff und steht dann in Geschichte, Deutsch und Religion auf dem Lehrplan. Reicht das? Der Gewerkschafter glaubt das nicht: "Man thematisiert den Holocaust und hat am Ende das Ergebnis: 'Das soll nie wieder passieren'. Jüdisches Leben in Deutschland und Europa dagegen ist kaum Thema." Dabei seien es gerade die Begegnungen, die helfen würden, Antisemitismus zu bekämpfen. Als Beer mit seiner Klasse in Auschwitz war, fuhr er auch nach Krakau zu der jüdischen Gemeinde. "Wir wollten nicht nur die Vernichtungsstätten besuchen, sondern uns auch anschauen, wie denn das jüdische Leben vor Ort aussieht und haben dann mit der Jugendorganisation gesprochen."
Beers Schüler sind Anfang, Mitte 20 und oftmals mit einem islamischen Antisemitismus aufgewachsen: "Die Propaganda in den Heimatländern, in denen es immer gegen Israel geht, ist schon immens. Viele Flüchtlinge sind zum Beispiel immer ganz erstaunt, wenn ich ihnen sage, dass in Israel knapp 20 Prozent der Bevölkerung Araber sind und sogar im Parlament sitzen." Die Schüler würden ihre eigene Haltung dann schon in Frage stellen - manche gehen sogar noch weiter: "Ich habe auch Syrer im Unterricht gehabt, die erzählten, dass sie schon immer gewusst haben, dass das alles nur Propaganda ist. Und sie waren unheimlich dankbar, auch mal eine andere Perspektive kennenzulernen." Und dann sind da noch die positiven Reaktionen, die selbst Beer einigermaßen sprachlos zurücklassen: "Einige Schüler mit Migrationshintergrund, die gerade erst einen deutschen Pass bekommen haben, sagten mir: 'Ich bin jetzt Deutscher und die Verantwortung für die Shoa ist jetzt auch meine Geschichte.'"
Antisemitismus muss Teil der Lehrerausbildung sein
Perspektivwechsel, mehr differenzieren und Vorurteile abbauen, aufhören mit dem Schwarz-Weiß-Denken - so versucht Florian Beer, seine Schüler aufzurütteln. Dazu gehört auch, Synagogen zu besuchen: "Einige weigern sich dann immer, die Kippa aufzusetzen." Dann werde diskutiert - und zur Not ein Kompromiss ausgehandelt: "Sie haben sich dann ein Tuch über den Kopf gelegt. Ich hätte es zwar schöner gefunden, sie hätten die Kippa getragen, aber es war in Ordnung." So hätten die Schüler zumindest zum ersten Mal ein jüdisches Gotteshaus betreten.
Jüdische Geschichte, Nationalsozialismus, jüdisches Leben heute, aber auch Ideen für außerschulische Projekte - seit einem halben Jahr können sich interessierte Lehrer Unterrichtsmaterial herunterladen, welches der Zentralrat der Juden in Deutschland und die deutsche Kultusministerkonferenz zur Verfügung gestellt haben. Ein Anfang, findet Florian Beer. Verbindlich sein müssten aber mehr Unterrichtsstunden an allen weiterführenden Schulen für den Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus. Und eine andere Lehrerausbildung müsse her: "Es kann nicht sein, dass man als angehender Lehrer durchs Studium kommt, ohne einmal über Antisemitismus gesprochen zu haben. Auch als Chemie- und Mathematiklehrer muss man mit Antisemitismus umgehen können, wenn auf dem Schulhof das Wort 'Du Jude' fällt."