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Politik

Virtuelles Gedenken an KZ-Befreiungen

Grzegorz Szymanowski
20. April 2020

Vor 75 Jahren wurden mehrere deutsche NS-Konzentrationslager befreit. Wegen der Corona-Epidemie wurden Gedenkveranstaltungen abgesagt, das Gedenken wurde ins Internet verlegt.

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75 Jahre Befreiung KZ Bergen-Belsen
Bild: Getty Images/AFP/R. Hartmann

Alina Lasker-Wallfisch war 19 Jahre alt, als am 15. April 1945 britische Soldaten das deutsche Konzentrationslager Bergen-Belsen befreiten, in dem sie gefangen gehalten wurde. Für sie war es das Ende von anderthalb Jahren Nazi-Terror. Mehr als 52.000  andere Häftlinge in Bergen-Belsen haben diesen Moment nicht mehr erlebt. 

"Nur wer damals hier in Belsen war, kann wirklich wissen, wovon wir Überlebenden reden: Nichts als Leichen, Leichen, Leichen", wollte Lasker-Wallfisch bei der Gedenkveranstaltung zum 75. Jubiläum der Befreiung sagen, zu der auch 120 andere Überlebende des Konzentrationslagers kommen wollten.

Deutschland Anita Lasker-Wallfisch bei Lesung in Schwerin
Anita Lasker-Wallfisch verlas ihre Rede in ihrer Londoner Wohnung. Ihr Enkel lud sie auf Youtube hochBild: picture-alliance/chromorange/O. Borchert

Ähnliche Pläne gab es an anderen KZ-Gedenkstätten, deren Befreiung sich in diesem April jährt, etwa in Ravensbrück, Sachsenhausen oder Dachau. Doch wegen der Coronavirus-Pandemie mussten die Pläne gestrichen werden. Gedenkorte bleiben für Besucher geschlossen, alle Veranstaltungen sind untersagt.

Besonderer Jahrestag

An die KZ-Opfer sollte in diesem Jahr besonders erinnert werden. "Gerade an runden Jahrestagen haben wir immer ein umfangreiches Programm vorbereitet", sagt Horst Seferens von der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Eine viertägige Veranstaltung mit tausenden Gästen war geplant, zu der 60 Überlebende aus aller Welt kommen wollten. "Die Begegnung mit ihnen hätte im Mittelpunkt gestanden", sagt Seferens und spricht damit ein anderes Problem an: die Zahl der Zeitzeugen geht rapide zurück.

Deutschland Gedenkveranstaltung KZ Bergen-Belsen
Einsames Gedenken in Ravensbrück: Niedersachsens Ministerpräsident Weil und Landtagspräsidentin AndrettaBild: picture-alliance/dpa/P. Steffen

Um die Jahrestage dennoch zu begehen, hat man sich in vielen Gedenkstätten entschieden, Filme von Kranziederlegungen sowie Videobotschaften von den geplanten Gästen online unter dem Hashtag #75Befreiung zu veröffentlichen. "Das kann die persönliche Begegnung nicht ersetzen, aber wir hoffen, dass das Ereignis auf diese Weise die ihm gebührende Aufmerksamkeit findet", so Seferens. 

 Gedenken per Videobotschaft

Richard Fagot, der den Holocaust als Kind in Sachsenhausen und Ravensbrück überlebte, hat seine Videobotschaft in Israel aufgenommen. Darin zieht er eine Parallele: Heute kämpft die internationale Gemeinschaft zusammen gegen das Coronavirus. Zur Zeit der Nazi-Herrschaft war es anders: "Hass und brutale Unterdrückung anderer Völker und Andersdenkender war das Gesetz." 

Barbara Piotrowska war ebenfalls im KZ Ravensbrück inhaftiert. Sie mahnt: "Unsere Generation der Überlebenden geht. Umso lauter schreien wir: Das darf man nicht vergessen." Auch die Belsen-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch, damals 19 und heute 94 Jahre alt, konnte ihre schon fertige Rede zuhause in London verlesen. Mit einem Smartphone wurde sie von ihrem Enkel aufgenommen.

Wichtig für die Angehörigen

Elżbieta Kuta, Tochter einer Überlebenden des KZs Ravensbrück, hat die Beiträge zur Befreiung dieses Lagers zuhause im polnischen Krakau gesehen. "Ich finde es wichtig, dass an diesem Tag nicht geschwiegen wird. Das würden sich auch die ehemaligen Gefangenen wünschen", sagt die 74-Jährige Präsidentin des Verbands "Familie weiblicher Gefangener des deutschen Konzentrationslagers Ravensbrück".

Deutschland Gedenkstätte Ravensbrück Monika Grütters
Kulturstaatsministerin Grütters gedenkt der Nazi-Verbrechen In RavensbrückBild: picture-alliance/dpa/C. Koall

Im Krieg wurde ihre Mutter Jadwiga wegen Beteiligung am Widerstand im von Deutschland besetzten Polen verhaftet und nach Ravensbrück verschleppt. Im April vor 75 Jahren ist sie von einem der sogenannten Todesmärsche geflohen - und hat so überlebt. Über die Schrecken des Lagers hat sie nur ungern erzählt, besucht hat sie es nach dem Krieg nur einmal; die Erinnerungen waren zu schmerzhaft. 

Vor zwölf Jahren ist sie gestorben. Ihre Tochter besucht jetzt das ehemalige Lager. "Die Traumata werden von Generation zu Generation weitergegeben", sagt sie. "Wenn ich da bin, versuche ich zu begreifen, wie meine Mutter das Lager überleben konnte." Mehrere Monate lang hat sie die diesjährige Reise nach Ravensbrück für etwa einhundert andere Angehörige und Schüler aus Polen mitorganisiert. Die Reise musste abgesagt werden. Doch es war "berührend", sagt sie, die Veranstaltung online zu verfolgen und Blumen am Denkmal "wie vor einem Jahr" zu sehen.

Internationales Problem

Die Pandemie hat Gedenkpläne in vielen Ländern umgeworfen. Für den israelischen Holocaust-Gedenktag am 20. und 21. April plant nun die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem, die Aufzeichnung der Zeremonie ohne Publikum im Fernsehen, auf Youtube und Facebook zu übertragen. 

Israel Holocaust Gedenktag im Zeichen der Corona Krise
Auch in der Gedenkstätte Yad Vashem erinnerte man digital an die KZ-Befreiung - und die Hallen blieben leerBild: Getty Images/AFP/M. Kahana

Darüberhinaus lädt Yad Vashem dazu ein, sich selbst beim Rezitieren der Namen von Holocaust-Opfern aufzunehmen und das Video unter den Hashtags #RememberingFromHome und #ShoahNames in den sozialen Netzwerken zu veröffentlichen.

Wie weiter nach der Epidemie?

Kann das diesjährige Gedenken im Internet ein Beispiel für die Zukunft sein? "Wir müssen uns dem Digitalen stärker öffnen", sagt Horst Seferens von der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Doch es müsse geprüft werden, welche digitalen Formate angemessen und sinnvoll seien. Denn nichts könne den Besuch in den ehemaligen Konzentrationslagern ersetzen. "Das sind nicht zuletzt reale Friedhöfe,” sagt er.

Dem stimmt Stephan Lehnstaedt, Professor für Holocaust-Studien am Touro-College in Berlin, zu. Wenn Instagram zur Normalität für junge Leute werde, müssten auch Gedenkstätten dort hin. Doch Internetpräsenz allein erzeuge "noch kein Wissen, sondern bloß Aufmerksamkeit", sagt Lehnstaedt. Die diesjährige Notlösung sei begrüßenswert, aber symbolisch nicht aussagekräftig genug, um Zeremonien in Gedenkstätten zu ersetzen.

Letzte Chance

Die vorübergehende Zwangsschließung der Gedenkstätten bietet laut Lehnstaedt gute Gelegenheit zum Innehalten und Nachdenken. "Die Überlebenden sterben, unsere Lebenswelt ändert sich, und wir müssen uns fragen: Wie soll das Gedenken in der Zukunft aussehen?" Er warnt davor, nur noch in Ritualen zu gedenken, die Erinnerung auf jährliche Reden zu reduzieren. Und er warnt vor Selbstzufriedenheit bei der Aufarbeitung deutscher Täterschaft im Zweiten Weltkrieg: "Damit dürfen wir nicht aufhören." 

Der Ausfall der Veranstaltungen zeigt deutlich, dass, solange die letzten Überlebenden am Leben sind, sie im Zentrum des Gedenkens stehen werden. Gerade deswegen planen einige Gedenkstätten, wie etwa die in Bergen-Belsen, im nächsten Jahr die große Jubiläumsveranstaltungen nachzuholen und die Überlebenden wieder einzuladen, die in diesem Jahr nicht kommen konnten.

75 Jahrestag der Befreiung aus Auschwitz
Im Januar wurde in Auschwitz noch mit Gästen an die Befreiung erinnert. Andere Gedenkstätten wollen nachholenBild: Reuters/K. Pempel

Auch Elżbieta Kuta und andere Angehörige denken schon an das nächste Jahr: "Wir werden so lange hingehen, wie wir Kräfte haben." Am wichtigsten sei ihr jetzt, Schüler und Jugendliche nach Ravensbrück mitzunehmen, um sie für das Thema zu interessieren. "Die Zeitzeugen gehen von uns weg. Die nächsten Jahre sind die letzte Chance für junge Leute, um sie noch kennen zu lernen", sagt Kuta. "Wir müssen uns sehr beeilen."