Die Deutschen wollen keinen Schlussstrich
24. Januar 2020Vor 75 Jahren befreite die Rote Armee die wenigen Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz. Mehr als eine Million Menschen wurden dort ermordet, vor allem Juden gehörten zu den Opfern. 1996 wurde der 27. Januar auf Initiative des Bundespräsidenten Roman Herzog zum offiziellen deutschen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, 2005 zogen die Vereinten Nationen nach und erklärten den 27.1. zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts.
Der Antisemitismus ist in den vergangenen Jahren in Deutschland wiedererstarkt, antisemitische Gewalttaten nehmen zu und immer häufiger werden Deutsche jüdischen Glaubens sogar auf offener Straße attackiert. Trauriger Höhepunkt war der Anschlag in Halle am 9. Oktober 2019: der Versuch, am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur die Synagoge zu stürmen und die 51 dort betenden Menschen zu ermorden.
Wie wichtig ist den Deutschen in diesen Zeiten die Erinnerungskultur an den Holocaust? Die Deutsche Welle hat infratest dimap beauftragt, diese Frage zu untersuchen. Das Meinungsforschungsinstitut führte in einer repräsentativen Stichprobe 1018 Telefoninterviews durch. Die Ergebnisse sind, wie es Meinungsforscher Roberto Heinrich zusammenfasst, "im Großen und Ganzen beruhigend".
Mehrheit der Deutschen steht zur Verantwortung
Auf die Frage "Wenn Sie jetzt einmal an den Nationalsozialismus denken: Würden Sie sagen, an die Verbrechen des Nationalsozialismus wird zu viel erinnert, in angemessenem Umgang erinnert oder zu wenig erinnert?", gab mehr als die Hälfte der befragten Personen an, der Umfang der Erinnerungskultur sei genau richtig. Jedem vierten Deutschen sind diese Erinnerungen zu viel, jeder sechste Deutsche meint hingegen, es werde in Deutschland zu wenig an die Verbrechen des Nationalsozialismus erinnert.
"Kürzlich sagte jemand: 'Wir sollten uns fast 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr so viel mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigen, sondern endlich einen Schlussstrich ziehen.' Würden Sie sagen, der hat recht oder nicht recht?", so lautete die zweite Frage der Studie. Mit 60 Prozent antwortete eine deutliche Mehrheit, dass sie gegen einen solchen Schlussstrich sei. 37 Prozent der Befragten befürworten dagegen, die Zeit des Nationalsozialismus hinter sich zu lassen.
Nach der Erinnerungskultur und der Schlussstrich-Debatte ging es in einem dritten Fragenkomplex um die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Für drei von vier Befragten sollte der Besuch einer KZ-Gedenkstätte wie zum Beispiel Auschwitz oder Buchenwald in Zukunft Bestandteil des Schulunterrichts sein.
Immerhin 61 Prozent unterstützen eine Auseinandersetzung mit der Rolle der eigenen Familie in der Zeit des Nationalsozialismus. Eine knappe Mehrheit (55 Prozent) hält es dagegen nicht für notwendig, politisch Asylsuchenden verpflichtend Kenntnisse über die Verbrechen des Nationalsozialismus zu vermitteln.
Höhere Bildung fördert Erinnerungsbereitschaft
"'Bildung hilft', war die erste Reaktion eines Kollegen von mir, als er sich die Teilaspekte der Studie anschaute", sagt Meinungsforscher Roberto Heinrich. Besonders signifikant ist dies bei der Schlussstrich-Debatte: Während mit 21 Prozent nur jeder Fünfte mit Abitur und Fachhochschulreife für einen Schlussstrich unter die Zeit des Nationalsozialismus ist, fordern dies mit 56 Prozent mehr als die Hälfte derjenigen mit Haupt- oder Volksschulabschluss.
"Es gibt insgesamt eine klare Mehrheit, die sagt, dass wir uns weiter mit der Thematik des Nationalsozialismus beschäftigen müssen", so lautet für Heinrich das Fazit der Studie.
Dass sich das politische und gesellschaftliche Klima in Deutschland trotzdem verändert hat, zeigt der Vergleich mit den Ergebnissen der Umfragen "Memo Deutschland - Multidimensionaler Erinnerungsmotor" von 2018 und 2019. Waren vor zwei Jahren nur 26 Prozent für einen Schlussstrich unter die Nazizeit, stieg dieser Wert im Vorjahr auf 33 Prozent. Bei der aktuellen Befragung von infratest dimap im Auftrag der DW sind es weitere vier Prozentpunkte mehr.
Antisemitismusbeauftragter klagt über Brutalisierung
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, äußerte sich insgesamt "besorgt" über die Umfrage-Ergebnisse. Im Gespräch mit der DW sagte Klein, die Ergebnisse zeigten, dass viele Deutsche das Gefühl hätten, Opfer zu sein, zur Erinnerung gezwungen zu werden. "Wir müssen deutlich machen, dass unsere Erinnerungskultur kein Selbstzweck ist, sondern wichtig für unsere Gesellschaft heute", erläuterte Klein weiter.
Insgesamt habe sich die Lage für Juden in Deutschland verschlechtert. Vor allem die Sozialen Medien hätten zu einer "Brutalisierung" beigetragen. "Wir müssen alles tun, um dem entgegen zu wirken", betonte Klein.