Weber: "Wachstumsmotor Istanbul"
17. Oktober 2013Deutsche Welle: Herr Weber, was steckt hinter dem Konzept von Eurochambres?
Richard Weber: Eurochambres ist eine paneuropäische Organisation mit 45 Mitgliedern, bestehend aus nationalen Industrie- und Handelskammern. Wir vertreten unsere Mitglieder zum Beispiel hinsichtlich der Industriepolitik, aber auch bei der Frage der Finanzierung von Unternehmen: "Access to finance" ist eines der wichtigsten Arbeitsfelder für uns. Hier beschäftigen wir uns mit der Frage, wie kleine und mittlere Unternehmen finanziert werden können. Wir beteiligen uns auch an entsprechenden Projekten. Wir wollen die Erfahrungen der Unternehmen nach Brüssel transportieren und in Brüssel vor Ort erklären. Dafür ist unser regionales Netzwerk besonders geeignet.
Welches Ziel haben Sie als neuer Präsident von Eurochambres und welche Veränderungen wollen Sie in der Zukunft vornehmen?
Zum einen möchte ich die Arbeit meiner Vorgänger fortsetzen. Dazu gehört eine Erweiterung der wirtschaftlichen Beziehungen über die EU hinaus. Das ist meines Erachtens ein wichtiger Ansatz. Zweitens möchte ich in die Regionen gehen, um vor Ort zu erfahren, was möglich ist. Ich werde also selbst in die unterschiedlichsten Städte wie Zagreb, Prag oder Stockholm reisen. Drittens möchte ich die Menschen, die die europäischen Kammern vertreten, mehr integrieren, um Projekte bei Eurochambres zu etablieren, die der Gemeinschaft unserer Kammern und ihrer Mitglieder dienen. Damit will ich erreichen, dass ein Schwede von einem Franzosen lernen kann oder ein Franzose von einem Holländer und ein Deutscher vielleicht von einem Litauer. Der globale Austausch hat etwas abgenommen. Das hat unterschiedliche Gründe, zum Beispiel die Wirtschaftskrise. Doch wir befinden uns auf dem Weg aus der Krise, so dass man sich wieder mit dem Austausch über die Grenzen hinweg beschäftigen kann. Das ist auch hier in Istanbul ein Thema.
Wie wollen Sie die wirtschaftliche Integration der Regionen und der Menschen erreichen?
Indem ich den Menschen zuhöre. Es gibt einen Spruch im Deutschen: Stolz und Neid sind die wirtschaftlich wichtigsten Bewegfaktoren. Auf die Erfolge anderer zu schauen, schafft den Antrieb, erfolgreiche Ansätze im eigenen Land zu übernehmen: Ein ganz wichtiges Thema, dem ich mich widmen möchte, ist die duale Ausbildung. Die duale Ausbildung kennt man außer in Deutschland nur noch in Österreich, Luxemburg und in gewisser Hinsicht in der Türkei. Jugendliche werden in diesem dualen Ausbildungssystem direkt im Unternehmen trainiert. Sie befinden sich abwechselnd drei Monate im Unternehmen und drei Monate in der Schule. Damit weiß der Unternehmer genau, wen er in der Zukunft übernehmen wird. Immerhin kennt er den Charakter und die Schulnoten des Jugendlichen und begleitet ihn bis zum Abschluss der Ausbildung. Diese duale Ausbildung ist derzeit ein Exportschlager. Der Grund ist einfach: Überall, wo es dieses Ausbildungssystem nicht gibt, haben wir eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Für mich bedeutet das: Das duale Ausbildungssystem verhindert die Jugendarbeitslosigkeit.
Momentan befinden Sie sich auf dem Eurochambres Wirtschaftsforum in Istanbul. Welches Potenzial hat die Türkei im europäischen Wirtschaftsraum?
Ich gebe Ihnen ein persönliches Beispiel: Meine Tochter ist 30 Jahre alt und war bei der Weltbank in Washington beschäftigt. Man hat ihr drei Städte zur Wahl gegeben, in die sie versetzt werden könnte: Singapur, Rio de Janeiro oder Istanbul. Und wo ist sie hingegangen? Nach Istanbul. Istanbul ist für Europa als Verbindung zwischen Europa und Asien eine zentrale Anlaufstelle. Hier in Istanbul spielt sich alles ab, wenn es um zukünftiges Wirtschaftswachstum geht. Wirtschaftswachstum hat immer etwas mit Bevölkerungswachstum zu tun. Diesbezüglich ist die Türkei besser aufgestellt, da die türkische Bevölkerung wächst. Außerdem wendet sich Europa immer mehr Asien zu. Und hier spielt natürlich die Türkei mit Istanbul eine wesentliche Rolle.
Welche Probleme sehen sie in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Türkei?
Natürlich gibt es Probleme. So wie es auch Probleme unter Eheleuten gibt. So ist das auch zwischen der EU und der Türkei. In dem jetzigen Wirtschaftsforum von Eurochambres in Istanbul habe ich einen wunderbaren Vortrag gehört über die Vorzüge der Türkei und aus welchen Gründen die Türkei noch immer nicht EU-Mitglied sei. In der Rede hieß es weiter, dass alle türkischen Minister dafür seien, jedoch die Europäer Schuld seien an dem langsamen Voranschreiten des türkischen EU-Beitritts. Aber ich finde, wir müssen das vorsichtig angehen. Es ist ein Geben und Nehmen. So etwas muss wachsen.
Sind sie aus wirtschaftlicher Sicht für oder gegen einen EU-Beitritt der Türkei?
Ausschluss ist immer ein negativer Ansatz. Wenn Europa zusammenwächst, dann gehört die Türkei dazu. Ich denke, dass die Türkei eine wesentliche, auch geostrategische Rolle spielt, auch angesichts der aktuell schwierigen Lage in manchen Staaten im östlichen Mittelmeerraum. Das darf man meines Erachtens nicht aus den Augen verlieren. Mancherorts gibt es Vorbehalte gegenüber der Türkei. Doch die Dinge in der Türkei können sich weiter zum Positiven entwickeln. Andererseits gebe ich zu bedenken: Ich finde auch die Schweiz ist ein gutes Beispiel. Alle Schweizer Unternehmen sind in Europa tätig. So wie auch alle türkischen Unternehmen in Europa tätig sind. Warum muss das Land dann noch Mitglied sein?
Richard Weber ist deutscher Unternehmer und seit Donnerstag (17.10.) neuer Präsident von Eurochambres - des europäischen Dachverbandes der Industrie- und Handelskammern. In diesem Verbund ist auch die türkische Industrie- und Handelskammer TOBB Mitglied. Als neuer Präsident will Weber unter anderem gegen die Jugendarbeitslosigkeit in Europa ankämpfen.
Das Interview führte Senada Sokollu.