Braindrain in Richtung Türkei
10. April 2013"Ich bereue es nicht eine Sekunde", sagt Dilek Keser über die Entscheidung, die sie vor anderthalb Jahren getroffen hat. Damals kehrte sie Deutschland den Rücken und entschied sich für ein neues Leben in der Türkei. Nach ihrem Wirtschaftsmanagement-Studium hatte sie zehn Jahre lang als Geschäftsführerin eines Unternehmens gearbeitet. Doch sie sei mit ihren beruflichen Zukunftsperspektiven nicht zufrieden gewesen, so die 36-jährige Deutschtürkin aus Hannover im Gespräch mit der DW.
Heute hat Dilek Keser ihre eigene Firma für Hausverwaltung in Istanbul. Sie kümmert sich um Immobilien ausländischer Investoren aus Europa und den USA. Es ist eine deutsch-türkische Firma, mit der Keser sowohl Euro als auch türkische Lira verdient. "Anfangs war es mir wichtig, weiterhin europäisches Geld zu verdienen. Doch jetzt könnte ich auch darauf verzichten", so Keser. Durch ihre deutsche Ausbildung und ihre Deutsch-, Türkisch- und Englischkenntnisse habe sie auf dem Arbeitsmarkt in der Türkei besonders gute Chancen.
"Deutschland soll der Türkei Fachkräfte schicken"
Viele Deutschtürken zieht es - wie Dilek Keser - in die alte Heimat der Eltern und Großeltern. Die Wanderungsstatistik des Statistischen Bundesamts zeigt, dass zum Beispiel im Jahr 2011 knapp 31.000 Menschen aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind - 33.000 haben hingegen die Bundesrepublik in Richtung Türkei verlassen. Der Trend besteht seit 2006 ungebrochen.
Einer der Hauptgründe ist der wirtschaftliche Erfolg der Türkei und die damit verbundenen guten Jobmöglichkeiten. Der türkische Industrieminister Nihat Ergün erklärte vor Kurzem bei einem Besuch in Berlin, wo er für die guten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in seinem Heimatland warb: "Deutschland soll der Türkei Fachkräfte schicken und nicht andersherum." Natürlich seien auch deutsche Bürger ohne türkische Wurzeln willkommen.
Seit dem Abschluss des Anwerbeabkommens von 1961 bis zum Anwerbestopp im Jahr 1973 kamen bis zu 750.000 Türken in die Bundesrepublik, um dort zu arbeiten. Wegen dieser großen Zahl an Arbeitnehmern, die die Türkei dadurch verloren hat, spricht sich Ergün gegen ein weiteres Anwerbeabkommen mit Deutschland aus.
Deutschtürken als Wirtschaftsmotor
Der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan plant, aus seinem Land eine der größten Volkswirtschaften der Welt zu machen - das soll spätestens bis 2023 realisiert werden. 2011 verzeichnete die Türkei ein Wirtschaftswachstum von 8,5 Prozent. Vor allem der türkische Bau- und Energiesektor boomt. Doch wegen der schlechten Lage der Wirtschaft in der EU "wird 2013 ein kritisches Jahr für die Türkei", sagt Sinan Ulgen, Vorsitzender des Zentrums für wirtschaftliche und außenpolitische Studien (EDAM) in Istanbul im DW-Gespräch. "Immerhin gehen 40 Prozent des türkischen Exports in die EU und 85 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen in der Türkei stammen aus der EU", so Ulgen.
Doch gerade in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten spielen türkische Arbeitskräfte aus Deutschland eine große Rolle, betont Ulgen: "Die Türkei hofft auf das Know-How der Türkischstämmigen, die ihre Ausbildung in Deutschland genossen haben. Allein schon aufgrund ihrer besseren finanziellen Situation sind sie eher in der Lage, eigene Unternehmen in der Türkei zu gründen und Arbeitsplätze zu schaffen." Durch ihre facettenreiche Wirtschaft biete die Türkei Unternehmensgründern bessere Bedingungen als Deutschland, meint er.
Das kann Tolga Sandikci bestätigen. Der gebürtige Münchener und ehemalige Betriebsleiter ist vor fünf Jahren in die Türkei gezogen. Heute hat er eine eigene Firma in Istanbul und verkauft Eisplatten zum Schlittschuhlaufen. "Nach nur drei Monaten hatte ich bereits um die 400 Bestellungen. In Deutschland wäre meine Firma nie so schnell gewachsen", so Sandikci. "In der Türkei gibt es so viele Geschäftsideen, die das Land noch braucht." Der Unternehmer warnt aber auch vor naivem Optimismus: "Die Mentalitätsunterschiede sind groß. Erst seit ich in der Türkei lebe, merke ich, wie deutsch ich bin". Die Gefahr, im Geschäftsbereich betrogen zu werden, sei hier größer als in Deutschland, meint Sandikci.
Warnung vor wirtschaftlicher Blase
Außerdem habe auch der Boom in der Türkei seine Schattenseiten, warnt der türkische Ökonom und Wirtschaftsjournalist Mustafa Sönmez. "Die ausländischen Investitionen im Baugewerbe verursachen eine gefährliche Blase", so der türkische Ökonom. Deshalb müsse die Türkei diesen Sektor verkleinern und dafür den Industriesektor ausbauen, der stark vernachlässigt werde. "Wir sind ein Importland, müssen uns aber viel mehr um den Export bemühen, damit die türkische Wirtschaft nicht ganz so verwundbar ist", rät der Ökonom. Diese Probleme seien dringender als das Anwerben von in Deutschland ausgebildeten Arbeitskräften für die Türkei.
Falls sich die Aussichten in der Türkei wieder verschlechtern oder die Mentalitätsunterschiede zu schwer zu überbrücken sind, haben Deutschtürken aber immer noch einen großen Vorteil. "Ich kann jederzeit zurück nach Deutschland", sagt Unternehmer Sandikci. Zwei Heimatländer zu haben, sei "ein Segen".