Was verrät die Shigir-Skulptur über die Menschheit?
1. April 2021Zwei Professoren der Archäologie treffen sich auf einer Konferenz, einer kommt aus Russland, der andere aus Deutschland. Es kommt zu einer Einladung nach Moskau, die zugleich der Beginn einer revolutionären archäologischen Entdeckung ist. "Solche Einladungen werden auf Konferenzen oft ausgesprochen, aber selten wahrgenommen", erinnert sich der Prähistoriker Thomas Terberger im DW-Interview.
In diesem Fall ist es anders: Terberger fliegt nach Moskau und macht sich mit seinem Kollegen, dem russischen Archäologen Mikhail Zhilin, auf die Reise ins Museum Sverdlovsk für Naturkunde in Yekaterinburg an der sibirischen Grenze im Uralgebirge.
Dort sieht Thomas Terberger das Shigir-Idol, wie es genannt wird, zum ersten Mal: einen dreieinhalb Meter hohen Totempfahl mit einem geschnitzten Gesicht. Jahrtausende lang hatte die Skulptur in einem russischen Hochmoor geschlummert, bevor sie Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt wurde. Nun steht sie seit mehr als 100 Jahren im Museum; ihr genaues Alter kannte lange niemand.
Unglaubliche archäologische Entdeckungen
Zhilin berichtet seinem Kollegen, die Skulptur müsse ursprünglich einmal ganze fünf Meter gemessen haben. Terberger forscht in Niedersachsen über hölzerne Speere aus der Altsteinzeit, die sogenannten "Schöninger Speere", die rund 300.000 Jahre alt sind, ein unglaubliches Alter. Denn Holz konserviere sich schlecht: "Legen Sie mal eine Fichtenplanke aus dem Baumarkt in Ihren Garten", erläutert Terberger die übliche Vergänglichkeit. "Nach zwanzig Jahren ist die verschwunden. Holz hält sich nur unter sehr besonderen Bedingungen, es muss durch einen glücklichen Zufall von der Natur luftdicht verschlossen werden."
Im Fall der Shigir-Skulptur war genau das passiert: Arbeiter fanden den gut erhaltenen Pfahl in den 1890er-Jahren in einem russischen Goldbergwerk - genau dort, wo einst ein Hochmoor lag.
Ein Jahrhundertfund: die älteste Holzskulptur der Menschheit.
1997 wurde sie bereits auf 9500 Jahre datiert, seitdem hat die Technologie noch einmal gewaltige Fortschritte gemacht. Deshalb wollen Terberger, Zhilin und ihr deutsch-russisches Team es noch genauer wissen: Können sie das Alter der Skulptur mit modernsten Mitteln bestätigen?
Die älteste Holzskulptur der Menschheitsgeschichte
Mehr als das: Sie finden heraus, dass die Skulptur noch älter ist als sie dachten, nämlich mindestens 12.000 Jahre. Damit stammt sie aus der ausgehenden Eiszeit - ein Fund, der das Verständnis der frühen Menschheitsgeschichte grundlegend verändert hat, sagt Terberger.
"Es gibt dieses Narrativ in der Geschichtsschreibung und Archäologie der frühen Menschheit: Denken Sie an die Eiszeitkunst, also die mehrfarbigen, detaillierten, ästhetisch auch 30.000 Jahre später noch immer ansprechenden Höhlenmalereien wie zum Beispiel in Lascaux", so der Prähistoriker.
Nach diesem künstlerischen und kulturellen Höhepunkt in der Eiszeit, so die bisherige Prämisse, sei es zu einem Niedergang der Menschheit gekommen. "Am Ende der Eiszeit entstehen garstige Wälder, Tiere müssen mühsam einzeln statt in Herden gejagt werden. Die Menschen sind zu beschäftigt für Kunst und Kultur, es geht ihnen schlecht." So stellte man es bislang sich vor.
Wie die Menschheitsgeschichte neu erzählt werden muss
Die Shigir-Skulptur zeigt: Dieses Narrativ ist nicht länger haltbar. Es gab keinen Niedergang, sondern einfach eine Veränderung, so Terberger. "Es entstehen neue Formen der Mitteilung, neue Ausdrucksmöglichkeiten von Ideen und sozialen Interaktionen, nämlich durch das Material Holz."
Durch die Neudatierung der Skulptur entstehe ein neuer Blick. "Man muss ein völlig anderes Bild dieser Zeit zeichnen. Die Menschen fristeten nicht einfach ein karges, trauriges Dasein in ihren Zelten", führt Terberger aus. "Im Wald standen vielleicht überall solche riesigen Skulpturen, vielleicht gehörte zu jedem Ort, jedem Lagerplatz so ein monumentales, beeindruckendes Werk."
Tom Higham, Professor an der Universität Oxford, bestätigt, dass technologische Fortschritte bei Untersuchungsmethoden der Archäologie einen wichtigen Schub verschafft haben, und betont, wie wichtig die neuen Erkenntnisse für aktuelle gesellschaftliche Debatten seien: "Gerade bei den Themen Rassismus und Rechtsextremismus können wir beobachten, dass manche die Welt so sehen wollen, dass Menschen grundsätzlich verschieden und unterscheidbar sind. Aber die archäologische Forschung, insbesondere im Bereich der DNA, zeigt eindeutig, dass wir alle sehr eng verwandt sind und dass eine Mischung des Genpools schon immer stattgefunden hat."
Das gilt auch für die Vor- und Frühgeschichte. In seinem Buch "The World Before Us" beschäftigt sich Higham mit den Verbindungen unter verschiedenen Menschenarten, mit denen der Homo Sapiens vor 40.000 Jahren koexistierte. "Ich glaube, es ist wichtig, auf genau diese Verbindungen und Vermischungen zu schauen statt auf irgendwelche Reinheitsfantasien."
So verändert sich aktuell das Bild der menschlichen Frühgeschichte. Auch die Neudatierung der Shigir-Skulptur trägt ihren Teil dazu bei: Sie verrät, dass die Menschheitsgeschichte nicht nur von Blütezeiten und von Niedergängen geprägt war und dass Kunst und Kultur nur in den Hochphasen entstehen konnte. Stattdessen wurde die Menschheitsgeschichte von Veränderungen geprägt. Kunst gab es zu allen Zeiten - auch aus Holz.