Stimmen Bayerns Vergewaltigungszahlen?
20. September 2017Es passiert selten, dass eine Kabinettssitzung in der Bayerischen Staatskanzlei in München in ganz Deutschland für Aufregung sorgt. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann hatte am 12. September Zahlen zur aktuellen Lage der Kriminalität im Freistaat Bayern präsentiert. Weniger Einbrüche, weniger Diebstähle, so weit sehr positiv. Doch eine "erschreckende" Entwicklung hatte er zu vermelden:
Die Zahl der Vergewaltigungsfälle im ersten Halbjahr 2017 sei um die Hälfte gestiegen: 685 Delikte seit Jahresbeginn, berichtete der Innenminister. 126 davon seien Zuwanderern zuzuordnen. Mit 60 Fällen mehr als im Vorjahreszeitraum würde das einen Zuwachs von 90,0 Prozent ausmachen.
Erschreckende Zahlen, aber Kriminologen können den Daten des Innenministers nicht so recht Glauben schenken. "Die Zahlen sind erstaunlich", sagt Ralf Kölbel, Strafrechtsexperte an der Ludwig-Maximilian-Universität in München. Es sei seiner Einschätzung nach aber nicht plausibel, dass sie einen realen Anstieg widerspiegelten.
Ein Verdächtiger ist nicht Täter
Doch wie kann man diesen rasanten Anstieg erklären? Die Zahlen des bayrischen Innenministers waren vorläufige Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) des Freistaats. In einer Kriminalstatistik landen nur solche Straftaten, zu denen die Polizei ermittelt, also die Tatverdächtigen.
Ein Verdächtiger ist aber nicht automatisch Täter. "Die Tatverdächtigenstatistik ist nicht sehr verlässlich", sagt Kriminologe Christian Pfeiffer vom Niedersächsischen Kriminalforschungsinstitut - wenn es darum gehen soll, die tatsächliche Kriminalität abzubilden.
Fremde werden eher angezeigt als Einheimische
Die Bereitschaft ein Sexualverbrechen anzuzeigen ist sehr gering. Eine Untersuchung des Bundesfamilienministeriums von 2012 stellte fest, dass nur acht Prozent der Opfer von sexueller Gewalt sich an die Polizei wandten. Vor allem bei Übergriffen aus dem privaten oder beruflichen Umfeld schätzen die Experten die Dunkelziffer extrem hoch.
Wenn sich Täter und Opfer nicht kannten, lag die Bereitschaft zur Anzeige allerdings höher. "Fremde haben immer ein höheres Anzeigerisiko bei Gewalttaten als Einheimische", sagt Kriminologe Pfeiffer. Sein Institut hat die Anzeigebereitschaft in einer 2017 veröffentlichten Studie bei 20.000 deutschen Jugendlichen untersucht.
Vor allem bei Sexualdelikten sei der Unterschied der Studie zufolge gravierend: Nur 18 Prozent der Opfer würden Anzeige erstatten, wenn der Täter augenscheinlich ein Einheimischer sei, aber 44 Prozent würden einen Fremden anzeigen. Das verzerrt das Bild.
"Nein heißt Nein": Hilft das neue Strafrecht?
Der rasante Anstieg könnte Indiz einer steigenden Anzeigebereitschaft sein, erklärt Strafrechtsexperte Kölbel. Eigentlich ein gutes Zeichen. Nach den sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht 2015 in Köln war das Sexualstrafrecht sehr präsent."Die Diskussionen unter dem Stichwort 'Nein ist Nein' können dazu beigetragen haben, dass die Anzeigebereitschaft gestiegen ist", sagt Kölbel. Das gelte auch für Opfer weiter zurückliegender Fälle. Denn die Polizei führt in ihrer Statistik nur abgeschlossene Ermittlungen auf, was nicht im Zusammenhang mit dem Zeitpunkt der Tat stehen muss.
Zusätzlich können veränderte Kriterien Statistiken beeinflussen. Nach den Vorfällen in Köln wurde in Deutschland das Sexualstrafrecht verschärft. Im Paragrafen 177 des Strafgesetzbuchs ist seit Ende letzten Jahres der Straftatbestand für eine Vergewaltigung strenger geregelt.
Klassische Fallstricke der Statistik
Mit dem erweiterten Straftatbestand fallen mehr Delikte in diese Kategorie, dementsprechend werden mehr Anzeigen dafür registriert. Ein Anstieg der Zahlen war also zu erwarten, sagt Pfeiffer. Während sich also nur das Anzeigeverhalten geändert habe, entstehe das Gefühl, dass sich die Zahl der Straftaten tatsächlich verändert habe, sagt Statistiker Walter Krämer von der TU Dortmund. "Das sind die typischen Fallstricke bei Kriminalitätsstatistiken."
Es gibt auch Zahlen, die oft nicht ins Verhältnis zueinander gesetzt werden können: Die Kriminalitätsstatistiken unterscheiden zwar Einheimische und Zugewanderte. Die Alters- und Geschlechtsstruktur sei aber unterschiedlich, sagt Kriminologe Pfeiffer. Unter Zuwanderern gebe es mehr junge Männer, die einheimische Bevölkerung sei deutlich älter. Man könne die Gruppen deshalb nicht miteinander vergleichen, bestätigte der Bericht des Bundeskriminalamts von 2016 zur "Kriminalität im Kontext von Zuwanderung".
Die Macht der Zahlen
Warum wird Daten dennoch so schnell Glauben geschenkt? "Zahlen strahlen eine gewisse Autorität aus", sagt Statistiker Krämer. Und: "Weil es einem in den Kram passt."
"Normalerweise werden keine Halbjahresstatistiken veröffentlicht, weil sie weniger zuverlässig sind", sagt Kriminologe Pfeiffer. "Da muss man den Eindruck gewinnen, dass mit einer Halbjahresstatistik operiert wurde, die gerade günstig kommt", vermutet Pfeiffer, "weil man Wahlkampf hat und sich mit einer bestimmten These profilieren möchte."
Ein unreflektierter Blick auf Statistiken verleitet zu Fehlschlüssen. Bayerns Innenminister Hermann beeilte sich direkt im Anschluss an seinen Bericht mitzuteilen: "Unser Ziel ist, die Sexualstraftaten noch gezielter zu bekämpfen, auch in den Asylunterkünften." Dazu gehöre für ihn auch "die wirksame Begrenzung der Zuwanderung und die konsequente Abschiebung abgelehnter Asylbewerber."
Tatsächlich konnte der Minister in der gleichen Sitzung selbst auch keine Erklärung für die Entwicklung liefern. "Unsere Polizeiexperten arbeiten derzeit an einer detaillierten Analyse der Statistikdaten", sagte Herrmann. Statistiker Krämer überrascht das nicht: "Wir haben hier das bekannte Phänomen, dass Korrelation nichts mit Kausalität zu tun haben muss." Trotzdem wurde mit den Zahlen bereits Politik gemacht.