Ein Mann mit Sinn für die Macht
5. Juli 2015Wir schreiben das Jahr 1990. Im Studio des Privatsenders ANT1 in Athen sitzen sich eine der renommiertesten Journalistinnen Griechenlands und ein kaum 16jähriger Schüler gegenüber. Es ist eine Zeit heftiger Schülerproteste und der Gymnasiast ist einer ihrer Anführer. "Tête-à-tête" heißt die einstündige Talksendung und Anna Panajotarea will wissen, was die Jugendlichen umtreibt. Ihre Fragen sind nicht einfach, aber ihr Gesprächspartner antwortet sehr überlegt. Am Ende der Sendung sagt eine sichtlich beeindruckte Journalistin zu ihrem Gast: "Alexis, wenn wir uns in 20 Jahre wiedertreffen, wirst du Ministerpräsident des Landes sein."
Die Journalistin hat sich um vier Jahre vertan, Alexis Tsipras ist es erst mit 40 geworden.
Der „nette“ Alexis
Tsipras wurde am 28. Juli 1974 geboren, vier Tage nach dem Ende der Militärdiktatur. Sein Vater, ein Bauunternehmer, war PASOK-Wähler. Die Schwester und der Bruder, beide älter, waren Mitglieder der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei. Mit 16 Jahren trat er ihr auch bei. Gleichzeitig war er glühender Fan von Panathinaikos Athen. Geht das überhaupt - Jungkommunist und Fan der Fußballclubs des politischen und wirtschaftlichen Establishments?
Wie Tsipras später gesteht, hat er einen Teil seiner Sozialisation auf den Rängen der "Grünen" erfahren. 2009 lehnt er den Bau eines Einkaufszentrums am geplanten neuen Stadionstandort ab. Der Bau kippt, Tsipras wird von der 100-Jahr-Feier seines Vereins ausgeladen, zu den Heimspielen ist er nicht mehr willkommen. Man sagt, es habe ihn schwer getroffen.
Hier zeigt sich ein entscheidender Wesenszug: Härte. Während in der Öffentlichkeit meist Schwiegersohn-Attitüden sein Bild prägen, kann Alexis Tsipras ganz schön austeilen. Sowohl Parteifreunde wie politische Gegner mussten oftmals schmerzlich erfahren, wie heftig die Reaktion des liebenswürdigen und wohlerzogenen, scheinbar harmlosen Alexis sein kann. Aber Tsipras hat auch starke Nehmerqualitäten. Spott, Beleidigungen, die sich der Jungspund oft von "gestandenen" Politikern hat anhören müssen, perlten an ihm ab. Er hat begriffen, dass es zum politischen Geschäft gehört, vor den Fernsehkameras übereinander herzufallen. Danach zwinkere man sich zu nach dem Motto: nimm's sportlich.
Der Pragmatiker
Tsipras ist kein Dogmatiker. Er hat bewiesen, dass er sich wandeln kann. Anders ist es nicht zu erklären, dass Syriza in wenigen Jahren sein Wahlergebnis fast verzehnfacht hat. Aber hat er Überzeugungen? Wenn er sie hat, scheinen sie ihn nicht daran zu hindern, sich veränderten Bedingungen anzupassen. Denn Tsipras ist vor allem Pragmatiker. Kurz nachdem er 2008 Parteivorsitzender wurde, gab er in einem Interview unumwunden zu, dass seine Partei keinesfalls eine Regierungsalternative darstelle. Als kurze Zeit später die Schuldenkrise ausbrach und in ihrer Folge die alten Regierungsparteien PASOK und Nea Dimokratia immer mehr ins Trudeln gerieten, erkannte Tsipras seine Chance.
Zunächst formte er nach heftig geführten Auseinandersetzungen 2012 aus dem Parteien- und Organisationenbündnis Syriza eine einheitliche Partei. In der Folge machte er sich daran, die Ausrichtung von Syriza zu ändern. Für eine linkssozialistische Kleinpartei von vier Prozent mag antikapitalistische Programmatik wichtig sein, um die Reihen der Anhänger geschlossen halten. Um aber das Tor für die Regierungsübernahme zu öffnen, braucht es im EU-Land Griechenland marktkonforme Positionen.
In Scharen liefen neue Wähler Syriza zu. Tsipras wusste, dass diese Bürger keinen Systemwechsel, sondern eine bessere reformorientierte Regierungspolitik wollten. Die Partei übernahm die Regierung, ohne allerdings den innerparteilichen Anpassungsprozess abgeschlossen zu haben. Ein Prozess, der notwendig ist, um die Erwartungen der neuen Wähler zu entsprechen. Vor allem der linke Flügel der Partei, der immerhin ein Drittel der Mitglieder repräsentiert, ist mit der schnellen Gangart ihres Vorsitzenden nicht selten überfordert.
Die kaschierten Spannungen traten bei den Verhandlungen für den Abschluss des zweiten Kreditpakets offen zu Tage. Die linken Parteigänger waren entsetzt, dass Tsipras umfangreiche Austeritätsmaßnahmen akzeptierte. Sie argumentierten, man habe den Wählern etwas anderes versprochen. Trotzdem gab es – wie so oft in der Vergangenheit – einen Kompromiss: wenn der Vorschlag der Kreditgeber von einer Neustrukturierung der Schulden begleitet werde, dann werde man im Parlament zustimmen. Doch in diesem Punkt konnte Tsipras nicht liefern. Um sich nicht der Gefahr einer Abstimmungsniederlage auszusetzen, entschied er sich für das Referendum.
Tsipras' Kalkül könnte so lauten: Auch wenn er das Referendum knapp verlieren sollte, werde niemand an Syriza vorbeikommen. Die alten Regierungsparteien Nea Dimokratia und PASOK sind in den Augen der Wähler noch zu sehr diskreditiert, als dass sie bei einer Neuwahl zu einer ernsthaften Gefahr für Syriza werden könnten.
Doch die einzig wirklich relevante Frage, die Tsipras wohl nicht beantworten kann, lautet: Wie werden sich die Kreditgeber am Montag verhalten?