Thailand - ein Jahr nach dem Tsunami
18. Dezember 2005Die Wellen der Andamanensee klatschen friedlich auf den Strand. Die endlose, grüne Wasseroberfläche glitzert spiegelglatt im Sonnenschein und vermischt sich am Horizont mit dem sanften Blau des Himmels. Nichts erinnert in diesem Moment an das Grauen vor einem Jahr.
Die Kühlcontainer mit den Opfern werden zwölf Monate nach dem Tsunami nur noch selten geöffnet. Nur dann, wenn eine Nachuntersuchung für eine der Leichen ansteht, um doch noch herauszufinden, um wen es sich handelt. Oder wenn eine Familie kommt, um ihr identifiziertes Familienmitglied endlich abzuholen.
Die Mitarbeiter des Identifizierungszentrums auf der Ferieninsel Phuket legen die Opfer vor den Augen ihrer Familien in die Särge. Die Angehörigen zünden Räucherstäbchen an und weinen lautlos. Harald Ringel verfolgt diese Übergaben stumm. Er ist der Einsatzleiter des deutschen Identifizierungsteams, das in den vergangenen zwölf Monaten mit Kollegen aus aller Welt versucht hat, den Opfern ihre Namen wiederzugeben.
Erinnerung und verheilte Narben
Der Einsatz in Thailand ist für die Experten vom Bundeskriminalamt Neuland. Ihr Arbeitsalltag sind normalerweise Flugzeugabstürze oder Zug- und Busunglücke, keine Naturkatastrophen - bis die tödliche Welle am 26. Dezember so gnadenlos zuschlug. Als die ersten BKA-Beamten in Thailand eintrafen, lagen über 5000 Leichen in buddhistischen Tempeln unter freiem Himmel.
Das Ausmaß der Katastrophe sprengt jedes erlernte Wissen. Dennoch liegt die Aufklärungsquote für die mehr als 530 Opfer aus Deutschland ein Jahr später bei 97 Prozent. Damit hatte in den chaotischen Anfangstagen in Thailand niemand gerechnet. Aber mit jedem Tag, der jetzt noch verstreicht, schwindet die Hoffnung, die noch über 900 unbekannten Opfer zu identifizieren.
Wenige Kilometer entfernt, an den Stränden der Westküste von Phuket, erinnert fast nichts mehr an die Katastrophe vor einem Jahr. In Patong, am beliebten Party-Strand der größten thailändischen Ferieninsel, herrscht Trubel. Die Narben aus Beton sind verheilt. Nur noch an einem guten Dutzend Gebäuden laufen Bauarbeiten. Dabei hat Patong die Wucht der Welle auf Phuket am stärksten zu spüren bekommen. Aber zwölf Monate später sind die Touristen zurück. Sie aalen sich auf Liegestühlen unter der tropischen Sonne und plantschen im badewannenwarmen Meer.
Tourismus-Maschine
Die Tourismus-Maschine Phuket läuft ein Jahr nach dem Tsunami wieder auf Hochtouren. Als sei nie etwas gewesen. Nur 100 Kilometer weiter nördlich, entlang der Westküste auf dem Festland, sieht es ein Jahr nach dem Tsunami noch ganz anders aus. Zwischen Khao Lak und Takua Pa hat das Wasser viele tausend Menschen getötet. Kein Stein in Strandnähe blieb auf dem anderen, als die Welle wie eine Faust aus Stahl einschlug. Das Blue Village Resort am Pakarang Strand ist nur noch ein zusammengeschobener Haufen Bauschutt. Von der prächtigen Empfangshalle des Fünf-Sterne-Hotels und den strandnahen Bungalows ist absolut nichts übrig geblieben.
Im Wat Yan Yao Tempel im 30 Kilometer von Khao Lak entfernten Takua Pa laufen Bauarbeiten. Der buddhistische Tempel in der ehemaligen Zinnstadt war nach dem Tsunami der zentrale Sammelplatz für die Leichen der Opfer von Khao Lak. Der Mönch Jiu Peng hat vor einem Jahr die ersten Toten entgegengenommen. Jiu Peng ruht in seinem Glauben. Das Grauen hat ihn nicht verändert, sagt er und lächelt.
Weiterleben. Das versuchen auch die Mo-Ken von Bang Niang. Die Seenomaden haben in Pfahlbauten aus Bambus und Bananen- und Palmenblättern ganz nah am Strand gewohnt. Bis die Welle kam und ihr Dorf auslöschte. Die Mo-Ken Familien von Bang Niang leben heute in stabilen, größeren Pfahlbauten aus Holz rund eineinhalb Kilometer vom Strand entfernt.
Wiederaufbau schreitet voran
Das Fischerdorf Nam Kem 15 Kilometer weiter nördlich hat die Hälfte seiner Einwohner verloren. Nam Kem gab es nach dem Tsunami nicht mehr. Aber auch hier läuft der Wiederaufbau auf Hochtouren. Allerdings stehen viele der neu gebauten Häuser leer, weil die Menschen Angst davor haben, nach Nam Kem, direkt ans Wasser, zurückzukehren.
Die Kinder in der neu gebauten Grundschule von Khuek Kak toben ausgelassen durch die Klassenzimmer. Aber es brodelt unter der fröhlichen Oberfläche, da ist sich der thailändische Psychiater Ton sicher. Der 38-Jährige ist in den USA aufgewachsen und hatte in Los Angeles eine gut gehende Praxis. Aber nach dem Tsunami hat er alles verkauft und ist in sein Heimatland zurückgekehrt, um den Menschen bei ihrer Trauerarbeit zu helfen. Er geht gezielt in die Schulen im Raum Khao Lak und bietet den Kindern Englisch- und Computer-Kurse an. Eine versteckte Therapie, damit sie Vertrauen zu ihm aufbauen und mit ihm reden:
Zerstörung, Verlust und Trauer sind nirgendwo an der thailändischen Westküste so gegenwärtig wie in Khao Lak. Aber das Leben muss weitergehen, sagen die meisten, und kämpfen mit ihren Erinnerungen und für den Wiederaufbau. Das gilt für die Thais genauso wie für die vielen hundert Europäer, die sich an den kilometerlangen Stränden von Khao Lak eine neue Existenz aufgebaut hatten. Auch sie haben alles verloren und müssen wieder ganz von vorne anfangen. Viele Touristen verirren sich aber noch nicht nach Khao Lak. Die wenigen, die länger bleiben, sind entweder Rucksackreisende, Taucher oder überzeugte Thailand-Liebhaber.