Stiller Protest
19. Juni 2013Viele Verhaftete, zahlreiche Verletzte und vier Tote - mehr als zwei Wochen lang demonstrierten Tausende Türken für mehr Rechte und Freiheiten in ihrem Land. Vor allem Premierminister Recep Tayyip Erdogan wurde zur Zielscheibe der Proteste: "Tayyip istifa!" ("Tayyip trete zurück!") gehörte zu den am lautesten gerufenen Slogans.
Die Demonstranten marschierten durch die Straßen Istanbuls, beschmierten die Wände mit regierungskritischen Sprüchen und lieferten sich heftige Gefechte mit der Polizei. Der Gezi-Park wurde zum Symbol der Protestbewegung. Dort wurde getanzt, gesungen, gegessen und in Zelten geschlafen. Nach der gewaltsamen Räumung des Parks durch die Polizei scheint das alles nun ein Ende zu haben. Statt der Rufe herrscht Schweigen, statt marschierenden Menschen sieht man Stillstand.
Schweigen als neue Art des Widerstandes
Abendliches Töpfeklopfen, Pfeifen, Klatschen und das An- und Ausschalten von Lichtern galten bereits in den vergangenen Wochen im ganzen Land als alternative Formen des Demonstrierens. Doch der schweigsame Stehprotest ist neu. Begonnen hat er am Montag (17.06.2013) mit einem Mann, der einfach nur dastand. Schweigend, die Hände in den Hosentaschen. Sein Blick starr, in Richtung eines Porträts des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk. Über fünf Stunden verharrte der Choreograph Erdem Gündüz in der gleichen Pose auf dem Taksim-Platz. Bald wurde er von Demonstranten bemerkt, mehr und mehr schlossen sich spontan seinem Beispiel an.
In der Nacht schließlich stand eine Menschentraube um den vorher einsamen Protestler herum. Schweigend. Nichts fordernd. Ein friedlicher Stehprotest. Die türkische Polizei war sich nicht sicher, was sie tun soll. Demonstrationen auf dem Taksim-Platz hat Erdogan verboten. Jeder, der jetzt noch dort demonstriere, werde als Terrorist behandelt, erklärte seine Regierung. Schließlich vertrieb die Polizei die schweigende Menge. Gündüz wurde festgehalten und verhört, letztendlich aber frei gelassen.
Stehender Mann mobilisiert die Massen
Binnen weniger Stunden gingen die Bilder und Berichte über den stillen Protest des stehenden Mannes (türkisch: duran adam) auf dem Istanbuler Taksim-Platz via Twitter (Hashtag #duranadam bzw. #standingman) um die Welt. In vielen türkischen Städten nahmen sich Demonstranten ein Beispiel am friedlichen Stehprotest. In Istanbul selbst hat sich der stille Protest inzwischen auf andere Stadtteile verlagert. So stehen etwa in Besiktas Demonstranten gegen die Regierung Erdogan ein. Ein Mann stellte sich vor die Redaktion der als regierungsnah geltenden Tageszeitung Sabah. Über die sozialen Netzwerke werden feste Uhrzeiten ausgemacht, zu denen die gesamte türkische Nation für fünf Minuten stillstehen soll. So wie Dienstagabend: Um Punkt 20 Uhr stand das ganze Land still.
Unglücklicherweise sei es in den letzten Tagen zu einem Verbrechen geworden, auf Dinge zu reagieren, die in diesem Land passieren, erklärt die 26-jährige Demonstrantin Eylem Özkan im DW-Gespräch: "Im Gezi-Park haben die jungen Menschen versucht, mit ihrer Kultur und ihrem Sinn für Humor Widerstand zu leisten. Aber es hat nicht geholfen. Jetzt haben wir uns für Stille entschlossen. Manchmal ist Stille die beste Reaktion."
"Wir sind klüger und stärker als sie"
Auf dem Taksim-Platz richten sich die Blicke vor allem auf das Atatürk-Kulturzentrum, das Erdogan zum Abriss verdonnert hat. Sitzend, betend und meditierend drücken die Menschen ihren Protest aus. Die Blicke richten sich auch auf die Polizei, die den Gezi-Park mit Absperrungen besetzt. Stundenlang stehen die Menschen den Beamten gegenüber. Ohne eine Miene zu verziehen, schauen sie ihnen in die Augen. "Das ist der beste Weg, um ihnen zu zeigen, dass wir klüger und stärker sind als sie. Denn sie schlagen uns und schubsen uns. Wir müssen klügere Wege finden, zu demonstrieren", sagt die Demonstrantin Gökce Isilsen. Ein weiterer Demonstrant hat vier Kerzen angezündet: Als Andenken an die vier Todesopfer - drei Demonstranten und ein Polizist. "Wenn wir uns mit Lauten ausdrücken, werden wir mit Schmerz konfrontiert, wenn wir leise sind, dann nicht", so der sitzende Demonstrant.
Der Journalist und Soziologe Hüseyin Günes ist schon seit dem ersten Tag der Protestbewegung dabei. "Mich hat eine Plastikkugel an der Hand getroffen, ich wurde von einer Tränengasbombe getroffen und mit Wasserwerfern angegriffen", so der stillstehende Günes im DW-Gespräch. Dies sei ein Aufschrei - und er wolle den Schrei damit verstärken.