Stiefkind der Politik: Die Linke
21. September 2017Am Abend des 22. September 2013 war sie rechnerisch möglich: eine rot-rot-grüne Bundesregierung. Zusammen hatten Sozialdemokraten, Linke und Grüne mehr Stimmen als Christdemokraten und Christsoziale. Dennoch wurde Angela Merkel (CDU) zum dritten Mal Kanzlerin - mal wieder mit den Stimmen der SPD. Ein Szenario, das sich nach der Bundestagswahl 2017 wiederholen könnte. Der Unterschied zum letzten Mal: Rot-Rot-Grün kommt angesichts der Umfragewerte nicht einmal theoretisch infrage.
Anfang des Jahres sah das noch ganz anders aus. Die SPD kürte Martin Schulz zu ihrem Kanzlerkandidaten, wählte ihn mit 100 Prozent zum Parteichef und weckte links von der Union Hoffnungen auf mehr soziale Gerechtigkeit. Die Berührungsängste zwischen den potentiellen Bündnispartnern schienen plötzlich auch auf Bundesebene zu weichen. Auf Länderebene waren sie schon immer geringer, allerdings nur im Osten Deutschlands. Zurzeit gibt es in Thüringen und im Stadtstaat Berlin rot-rot-grüne Regierungen und in Brandenburg eine Koalition aus SPD und Linken.
Vor allem in Großstädten ist die Linke eine feste Größe
CDU und FDP hingegen lehnen die Linke auch 27 Jahre nach der deutschen Vereinigung grundsätzlich ab. In ihren Augen ist sie noch immer die Nachfolgerin der DDR-Staatspartei SED. Natürlich ist dieser Ursprung Teil des historischen Erbes, aber die Linke 2017 hat sich programmatisch und personell längst von ihrer Vergangenheit emanzipiert. Die entscheidende Zäsur fand vor zehn Jahren statt, als sich die aus der SED hervorgegangene PDS mit enttäuschten Sozialdemokraten und Gewerkschaftern aus dem Westen vereinigte.
Trotzdem haftet der neuen Partei noch immer das Etikett der angeblich ostdeutschen Linken an. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Vor allem in westdeutschen Großstädten ist sie eine feste Größe. In Hamburg und Bremen schaffte sie je dreimal den Sprung in die Bürgerschaft, zuletzt 2015 mit Rekordergebnissen. Auch in den Landtagen Hessens und des Saarlands gelang der Hattrick.
Die Hälfte der Bundestagsabgeordneten kommt aus dem Westen
Solchen Erfolgen stehen bittere Niederlagen wie im vergangenen Mai in Nordrhein-Westfalen gegenüber, wo die Linke mit 4,9 Prozent an der Rückkehr ins Parlament scheiterte. Im Wortsinne nicht angekommen sind die Sozialisten im Süden und Teilen des Südwestens der Republik: Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz. Dort gab es noch nie eine Landtagsfraktion der Linken.
Im Bundestag wurde die Linke nach der Bundestagswahl 2013 sogar Oppositionsführerin. Exakt die Hälfte der 64 Abgeordneten kommt aus westdeutschen Wahlkreisen. Im nächsten Bundestag dürften ostdeutsche Abgeordnete in der Minderheit sein, weil die Linke laut Prognosen im Westen zulegen und im Osten an Zustimmung verlieren dürfte. Sollte sie ihr Wahlziel von zehn Prozent plus X erreichen, könnte die künftige Fraktion zu zwei Dritteln aus westdeutschen Abgeordneten bestehen.
Peter Altmaier warnt vor der AfD - und der Linken
Als Protestpartei hat die Linke schon längst ausgedient. Diese Rolle nimmt jetzt die rechtspopulistische AfD ein. Doch etabliert bedeutet - zumindest auf Bundesebene - nicht automatisch akzeptiert. Im Verhältnis zu SPD und Grünen liegt das mehr an programmatischen Unterschieden. Bei Union und FDP kommen ideologische Vorbehalte dazu. Jüngstes Beispiel ist eine Äußerung von Kanzleramtsminister Peter Altmaier. "Im Übrigen glaube ich auch, dass die Linke keine Partei ist, die die Stabilität unseres politischen Systems befördert", sagte der Merkel-Vertraute.
Der Satz fiel im Zusammenhang mit seiner Empfehlung, lieber gar nicht zu wählen, bevor man sein Kreuz bei der AfD mache. Altmaiers Vorstoß liegt auf der Traditionslinie von Wahlkämpfen in den 1990er Jahren, als die Union mit Rote-Socken-Kampagnen vor der damaligen PDS warnte. Tiefpunkt der politischen Kultur war 1994 das Verhalten der Union gegenüber dem 81-jährigen Alterspräsidenten des Bundestages, Stefan Heym.
Der Affront gegenüber dem Schriftsteller Stefan Heym
Der vor den Nazis ins Ausland geflohene parteilose Schriftsteller war auf der offenen PDS-Liste ins Parlament gewählt worden und durfte als ältester Abgeordneter die erste Rede halten. Mit Ausnahme von Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU) verweigerten alle Unionsabgeordneten Heym den Applaus, einige verließen sogar demonstrativ den Saal. Wie stark die Aversion des konservativen Lagers gegenüber der Linken noch immer ist, zeigt sich bis heute im parlamentarischen Alltag: Gemeinsame Anträge mit ihr sind ein Tabu - auch wenn man inhaltlich absolut einer Meinung ist.
SPD und Grüne sind da schon weiter. Kein Ruhmesblatt war allerdings 2002 der Umgang mit den PDS-Frauen Petra Pau und Gesine Lötzsch. Sie bildeten als direkt gewählte Parlamentarierinnen ein einsames Duo, weil ihre Partei an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert war. Die beiden mussten im Plenarsaal unter Parlamentspräsident Wolfgang Thierse (SPD) auf zwei Stühlen ohne Schreibtisch Platz nehmen.
Ein AfD-Erfolg könnte zu mehr Akzeptanz der Linken führen
Pau und Lötzsch verkörperten unfreiwillig für alle sichtbar die Rolle von Außenseitern. Sie waren die Stiefkinder der deutschen Politik. So schlimm wie damals ist es zwar nicht mehr, von Normalität kann aber nach wie vor keine Rede sein. Vielleicht ändert sich das mit dem Einzug der AfD in den Bundestag. Sollte sie drittstärkste Fraktion und die Große Koalition fortgesetzt werden, wäre die AfD das, was die Linke bis jetzt war: Oppositionsführerin. Mehr mediale Aufmerksamkeit wird den Rechtspopulisten schon heute zuteil.