Kindsmorde - ein internationaler Vergleich
12. Dezember 2007Erneut sind in Deutschland zwei Babyleichen entdeckt worden: In einem Wald bei Heidelberg fand ein Spaziergänger ein totes Baby in einer Plastiktüte. Der Leichnam des Jungen habe schon mehrere Wochen dort gelegen, teilte die Polizei am Dienstag (12.12.2007) mit. Und in Schwarzheide bei Cottbus soll eine 17 Jahre alte Schülerin ihr neugeborenes Baby erdrosselt haben.
Bereits in der vergangenen Woche wurden an einem Tag (6.12.2007) neun Fälle bekannt, in denen Mütter ihre Kinder umgebracht hatten. Die Forderungen nach Konsequenzen werden nun immer lauter. Der schleswig-holsteinische Innenminister Ralf Stegner (SPD) forderte eine Verankerung des Kinderschutzes im Grundgesetz. Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) will eine Pflichtuntersuchung für Kleinkinder einführen, um Misshandlungen frühzeitig aufzudecken. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat für den 19. Dezember einen Kinder-Notgipfel anberaumt.
Rudi Tarneden, Sprecher des Kinderhilfswerk Unicef, sagt, der Kinderschutz in Deutschland stünde "in der Krise". Besonders, weil der der Anteil offensichtlich erziehungsunfähiger Eltern steige. Dabei hatte eine Unicef-Studie aus dem Jahr 2003 noch gezeigt, dass die Zahl der Kindstötungen in Industriestaaten im Vergleich zu den 1970er-Jahren rückläufig ist. Trotzdem waren auch vor vier Jahren die Zahlen nicht sehr rühmlich.
Tödliche Kindsmisshandlungen gibt es in jedem Land
Nach der Unicef-Studie sterben jede Woche in Deutschland durchschnittlich zwei Kinder durch häusliche Gewalt oder Vernachlässigung. In Frankreich sind es drei Kinder pro Woche, in Japan vier und in den USA 27. Weltweit schätzt die Weltgesundheitsorganisation WHO die Gesamtzahl der Morde an Kindern und Jugendlichen auf 53.000 für das Jahr 2002.
Im Durchschnitt lieg die Gefahr tödlicher Misshandlungen in Familien in den wohlhabenden Industrieländern laut der Unicef-Studie bei 2,2 Fällen pro 100.000 für Jungen und 1,8 Fällen für die gleiche Zahl von Mädchen. In den Entwicklungsländern sind die Raten zwei bis dreimal höher.
Rückschlüsse auf die tatsächliche Brutalität von Eltern gegenüber Kindern in verschiedenen Ländern ließe diese Studie allerdings nicht zu, sagt Rudi Tarneden von Unicef-Deutschland. Eine Messung sei schon alleine deshalb schwierig, weil es keine international anerkannte Definition von "Kindesmisshandlung" gebe.
Statistiken nicht einheitlich
Außerdem sei die Erfassung von Todesfällen uneinheitlich. So sei beispielsweise sehr schwer nachzuprüfen, ob ein Kind durch einen Sturz oder durch Schläge ums Leben gekommen ist; ob es aus dem Fenster gefallen ist oder ob es absichtlich hinausgeworfen wurde, wie ebenfalls in der vergangenen Woche eine Zweijährige in Wien. Offensichtliche Tötungen gäbe es weitaus seltener als Tötungen durch Vernachlässigung.
"Da keine international akzeptierte Forschungsmethodik existiert, kann das wahre Ausmaß von Kindesmisshandlungen durch Statistiken nicht erfasst werden", sagt Tarneden. So könne die vergleichsweise hohe Zahl der Todesfälle in den USA auch darauf zurückzuführen sein, dass die Todesfälle akkurater erfasst würden. In den USA würden Kindsmorde mehr Aufmerksamkeit beigemessen als in vielen europäischen Ländern, erklärt Tarneden.
Andererseits habe die Studie einen klaren Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Gewalt innerhalb einer Gesellschaft und der häuslichen Gewalt gegen Kinder belegt. Die Zahl der Erwachsenenmorde weise gerade in den Ländern mit den meisten Kindstötungen, nämlich USA, Mexiko und Portugal, die höchsten Raten auf.
Kindsmorde: Nur die Spitze des Eisbergs
Kindsmorde sind nur die Spitze des Eisbergs - Untersuchungen in den OECD-Ländern verdeutlichen dies: In Australien ergab eine Studie, dass in den Jahren 1999 bis 2000 auf jeden Fall von Kindstötungen 150 belegte Fälle von Misshandlungen kamen. In Frankreich liegt das Verhältnis bei eins zu 300 und in Kanada bei eins zu 1000. Häufig kommt es dort zu sehr schlimmen Misshandlungen, wo Schläge ohnehin zur Erziehung dazugehören. In den meisten Ländern ist dies der Fall. Nur in sieben Staaten gibt es explizite Gesetze zum Verbot der Prügelstrafe, nämlich in Dänemark, Deutschland, Island, Norwegen, Österreich und Schweden. In den USA hat einzig der Bundesstaat Minnesota ein ähnliches Gesetz verabschiedet.
Schläge oft an der Tagesordnung
Wie sehr die Einstellung "ein bisschen Schlagen schadet doch nicht" auch in Industriestaaten nach wie vor verbreitet ist, zeigen laut Unicef Untersuchungen aus England und den USA: In England wurden Mitte der 1990er Jahre 97 Prozent der Ein- bis Vierjährigen gelegentlich geschlagen, die Hälfte von ihnen einmal in der Woche. Ein Viertel der Kinder wurde regelmäßig mit Riemen oder Stöcken gezüchtigt. In den USA liegt die Quote der Eltern, die ihre Kinder mit Schlägen züchtigen bei 94 Prozent, wie eine ähnliche Studie 2000 belegt.