Stephan E. gesteht Todesschuss auf Walter Lübcke
5. August 2020Knapp eine Stunde dauert die Einlassung von Stephan E. im Prozess um den Mord am Kassler Regierungspräsidenten Walter Lübcke am Oberlandesgericht in Frankfurt am Main - doch der entscheidende Satz fällt erst nach mehr als einer halben Stunde: "Ich habe geschossen", lässt E. am Mittwochvormittag kurz nach elf Uhr in einer von seinem Anwalt verlesenen Einlassung verlauten. Die Tat sei feige und grausam gewesen. "Es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid", sagt er an die Familie Lübckes gerichtet. "Niemand solle wegen seiner Religion sterben müssen, niemand solle wegen seiner Meinung oder seiner Herkunft sterben müssen", so E.
Für Walter Lübcke kommt diese Einsicht zu spät. Die Generalstaatsanwaltschaft wirft E. Mord, dessen Mitangeklagten Markus H. Beihilfe zum Mord an dem Regierungspräsidenten vor. Sie sollen ihren Hass auf Ausländer und eine ihrer Meinung nach zu ausländerfreundlichen Politik in Deutschland auf den 65-Jährigen projiziert haben.
Auslöser für die Tat Anfang Juni des vergangenen Jahres war offenbar eine Rede Lübckes bei einer Bürgerversammlung 2015, bei der er es um eine Flüchtlingsunterkunft ging. Auf Proteste aus dem Publikum sagte Lübcke, dass man für Werte einstehen müsse. "Und wer diese Werte nicht vertritt, der kann dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen."
Mitangeklagter H. laut E. treibende Kraft
Die von E.s Verteidiger am Mittwoch verlesene Erklärung ist das dritte Geständnis des Hauptangeklagten. Zuvor hatte er sich bereits zwei Mal eingelassen - jedes Mal mit einer anderen Version des Tatabends vom vergangenen Jahr. Die wenn auch knappen, aber deutlichen Worte Stephan E.s überraschen dennoch. Sie sind eine Mischung aus dem, was er zuerst gegenüber der Polizei angab und einer späteren, modifizierten Version, in der er seinem Mitangeklagten die Schuld gab. Auch dieses Mal belastet E. seinen ehemaligen Freund Markus H. schwer. Allerdings räumt er nun wieder ein, selbst geschossen zu haben. Das hatte er bereits in seiner ersten Erklärung bei der Polizei geäußert, dabei aber H. mit keiner Silbe erwähnt. Später hatte er behauptet, H. habe Lübcke im Streit versehentlich erschossen.
An diesem Mittwoch jedoch war davon nichts mehr zu hören. E. erzählte, wie es zu jener verhängnisvollen Nacht im vergangenen Juni kam, als Lübcke auf der Terrasse seines Hauses in Wolfhagen-Istha bei Kassel erschossen wurde. Die Worte von Stephan E. lassen die Zuhörer erschaudern. Sie beschreiben eine stille, aber rasend schnell voranschreitende Radikalisierung eines jungen Mannes, der in jeder Nachbarschaft hätte wohnen können.
Treibende Kraft laut Stephan E.: sein Mitangeklagter Markus H. "Er hat mich radikalisiert, manipuliert und aufgehetzt", so E. in seiner Erklärung. "Und ich habe es mit mir machen lassen." H. habe Waffen besorgt und mit ihm Schießübungen im Wald absolviert. "Er sprach immer von bürgerkriegsähnlichen Zuständen, die bald in Deutschland herrschen würden." Das westliche Leben in Deutschland müsse gegen eine Islamisierung verteidigt werden.
E., der sich selbst als Prepper bezeichnet, der sich auf eben jenen "Bürgerkrieg" habe vorbereiten wollen, sich selbst aber nicht als Nazi sieht, habe sich mitreißen lassen. Prepper sind Menschen, die sich akribisch auf mögliche Krisen und Katastrophen vorbereiten.
H. habe "immer und immer wieder" davon gesprochen, dass die "Regierung Merkel" ihren Bürgern die Freiheit nehmen und sie auslöschen wolle. Für die Schießübungen im Wald habe H. deswegen irgendwann ein Konterfei der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf die Zielscheibe geklebt. Auch ein Bild Lübckes sei hinzugekommen. Denn: Der Kasseler Regierungspräsident sei ein "Volksverräter" und "Handlanger jüdischer Interessen".
"Beweg dich nicht!"
Außerdem sei Lübcke jemand gewesen, "an den man im Gegensatz zu Merkel herankommen konnte", soll H. gesagt haben. Lübcke wurde offenbar getötet, weil er für die Angeklagten - so zumindest stellt es E. dar - ein einfaches Opfer war. Am Tatabend hätten sie sich gegen 21.30 Uhr getroffen, E. mit einer Waffe in der Tasche, die er zuvor von H. erhalten habe. Man habe Lübcke abpassen und zur Rede stellen wollen, so der Plan. Gegen halb elf sei man am Haus der Familie Lübcke angekommen. E. habe sich über eine davor gelegene Koppel nähern sollen. H. sei zum Auskundschaften vorneweg gegangen. Schließlich hätten sowohl E. als auch sein Mitangeklagter eine Person auf der Terrasse gesehen, dazu das aufglimmende Licht von einem Smartphone.
Was dann folgte, beschreibt E. in seiner verlesenen Einlassung mit kurzen Sätzen: "Bedrohe du ihn mit der Waffe, ich werde in ihn reintreten und ihm was übers Auswandern sagen", habe H. das weitere Vorgehen bestimmt. Zu einem möglichen Einsatz der Waffe ließ E. verlesen: "Das war auf jeden Fall eine Option." H. habe ihm außerdem noch gesagt, dass er schießen solle, wenn Lübcke sich bewege.
Auf der Terrasse angekommen, habe E. mit seiner Waffe "aus kurzer Distanz" auf Lübcke gezielt. "Beweg dich nicht", habe er gesagt, als der Regierungspräsident aufstehen wollte. Dabei sei er nähergekommen und habe Lübcke in dessen Stuhl zurückgedrückt. "Für sowas wie dich gehe ich jeden Tag arbeiten." H. habe Lübcke angebrüllt und beschimpft. "Zeit zum Auswandern", habe er außerdem gesagt. Als der Regierungspräsident sich erneut bewegte, habe E. aus nächster Nähe abgedrückt. "Ich habe geschossen", sagt er. Zu H. habe noch gesagt, dass er glaube, Lübcke am Kopf erwischt zu haben. Dann seien die beiden geflüchtet.
E. entschuldigt sich bei Familie
Mehrfach entschuldigt sich der Angeklagte danach bei der Familie Lübckes. Seine Tat sei nicht wieder gutzumachen. Er wünschte, er könne sie ungeschehen machen. "Ich für meine Person übernehme dafür die Verantwortung." Er wolle ein Aussteigerprogramm für Rechtsextremisten absolvieren, ließ er noch ausrichten.
Außerdem leide er unter der Trennung von seiner Familie. Dass seine heute 16 Jahre alte Tochter keinen Kontakt mehr zu ihm haben wolle, schmerze ihn sehr. Schon immer habe er Angst gehabt, für seine Kinder kein guter Vater sein zu können, hatte E. bereits zu Beginn seiner Einlassung erklären lassen. Sein Vater sei alkoholkrank und ein Schläger gewesen, der sowohl auf seine Mutter als auch auf ihn losgegangen sei. Bereits vor seiner Einschulung habe E. aus Angst vor seinem Vater mit einem Messer unter dem Bett geschlafen. Durch die ständige körperliche und seelische Gewalt in seinem Elternhaus habe er einen "psychischen Schaden" davongetragen und später Panikattacken bekommen. Zudem habe sein Vater ihm verboten, sich mit einem türkischstämmigen Schulfreund zu treffen. Mit "Kanaken" spiele man nicht. Sein Hass auf Ausländer sei gewachsen, als er im Gefängnis saß.
Wegen eines Angriffs auf einen Iman aus Wiesbaden habe er eine Haftstrafe absitzen müssen. Als ausländische Mitgefangene erfahren hätten, weshalb er einsaß, hätten sie ihn verprügelt. Nach der Haftentlassung habe er unter anderem Treffen der NPD und rechtsextremistischer Organisationen besucht. Als man ihn "in der Szene" jedoch mehrfach wegen seiner russischstämmigen Frau angefeindet habe, sei er ausgestiegen.
2014 jedoch habe er H. an seiner Arbeitsstelle getroffen - und sei den Theorien des Mannes, den er "Freund und eine Art Vaterersatz" nannte, erlegen.