Stadtflucht: Stadt, Land, Frust - oder Lust?
13. September 2023Strukturschwach, so nennt man ländliche Gegenden, in denen im wahrsten Sinn des Wortes nichts mehr los ist. Dörfer, in denen überwiegend alte Menschen wohnen, in denen es keine Arbeit mehr gibt, keinen Bäcker, keinen Laden für Lebensmittel, keinen Arzt, keine Feuerwehr. Ländliche Gebiete in ganz Europa leiden unter Abwanderung. Die Menschen zieht es in die großen Städte, die Entwicklung macht weder vor den Alpen, dem Balkan noch den Pyrenäen Halt.
Zwischen 2015 und 2020 verzeichneten laut der EU-Behörde Eurostat 355 von 406 vorwiegend ländlichen Regionen in der EU mehr Abwanderung als Zuwanderung. Vor allem die Zahl der jüngeren Menschen und Menschen im erwerbsfähigen Alter ging zurück. Die Zahl der Menschen im Alter von 65 Jahren und älter stieg hingegen jedes Jahr um durchschnittlich 1,8 Prozent.
EU-Visionen für ländliche Gebiete
Die Folgen sind gravierend. In den Städten wird es immer enger und das Leben teurer. Wohnraum ist knapp und der Druck wächst, auch die letzte Grünfläche zu bebauen und zu versiegeln. Im ländlichen Raum hingegen wachsen der Leerstand und das Gefühl, abgehängt zu sein. Bahnlinien werden ausgedünnt und eingestellt, Infrastruktur nicht erneuert, die Digitalisierung vernachlässigt. Das schürt Frust und der macht sich auch politisch bemerkbar.
Die Europäische Union hat das erkannt und versucht, mit Förderprogrammen wie dem "Pakt für den ländlichen Raum" und dem "EU-Aktionsplan für den ländlichen Raum" die Landflucht einzudämmen. 2021 wurde eine "Vision für die ländlichen Gebiete der EU" vereinbart. Mit viel Geld sollen vernachlässigte Orte wiederbelebt werden.
Entvölkerung in Ostdeutschland
Auch in Deutschland kannte die Binnenmigration drei Jahrzehnte nur eine Richtung: Vom Land in die Städte. Das galt nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 in besonderem Maße für die ostdeutschen Bundesländer, die in manchen Gebieten eine regelrechte Entvölkerung erlebten. Städte wie Leipzig, München oder Berlin hingegen legten zwischen 2000 bis 2020 teilweise deutlich über zwanzig Prozent an Einwohnern zu.
Doch dieser Trend scheint gestoppt, wie aus statistischen Daten des Bundes und der Länder aus den Jahren 2008 bis 2021 hervorgeht. Während Studierende, Auszubildende und zuziehende Ausländer weiter in die Städte streben, ziehen seit 2017 immer mehr Menschen zwischen 30 und 49 Jahren mit ihren minderjährigen Kindern sowie Berufseinsteiger zwischen 25 und 29 Jahren aufs Land.
Über die Speckgürtel weit hinaus
Zunächst überraschend ist, dass es dabei kaum noch eine Rolle spielt, ob die Dörfer oder Kleinstädte in der Nähe einer Großstadt oder in der Peripherie liegen. Von einer neuen "Landlust" spricht die Stiftung Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, ein Thinktank, der sich mit dem demografischen Wandel und seinen Folgen beschäftigt.
Zusammen mit der Wüstenrot-Stiftung hat der Thinktank die statistischen Daten analysiert und die Folgen untersucht, die das veränderte Wanderungsgeschehen in Deutschland hat. 2021 hätten rund zwei von drei Landgemeinden Wanderungsgewinne erzielt, sagt der Sozialpsychologe Frederick Sixtus vom Berlin-Institut. Ein Jahrzehnt zuvor habe das nur für rund jede vierte Landgemeinde gegolten.
Der Traum vom Eigenheim ist in der Stadt unbezahlbar
Auf der Grundlage der Wanderungsanalyse besuchten die Forscher eine Woche lang sechs Gemeinden in unterschiedlichen ländlichen Gegenden in ganz Deutschland, die zurzeit besonderen Zuwachs zu verzeichnen haben und führten dort viele Gespräche. "Neu im Dorf - wie der Zuzug das Leben auf dem Land verändert", heißt die Studie, die daraus entstanden ist.
"Ich habe mich bewusst dazu entschieden, auf das Land zu gehen, weil es familiärer ist", wird in der Studie ein Zuzügler zitiert. "Und ich bin ehrlich, wenn man bauen möchte, ist der Kostenpunkt natürlich ein großes Thema. Und das ist natürlich am Land ganz anders." In vielen Gesprächen erfuhren die Wissenschaftler, dass vor allem mehr und günstigerer Platz zum Wohnen gesucht wird, mehr Natur und weniger Umweltverschmutzung.
Schnelles Internet und Kinderbetreuung sind ein Muss
Die Möglichkeit, tageweise oder sogar ganz im Home-Office zu arbeiten, lässt Menschen auch längere Wege in die Stadt in Kauf nehmen. "Die unbedingte Notwendigkeit, am Ort des Arbeitsplatzes zu leben, besteht nicht mehr", erklärt Sozialpsychologe Sixtus. "Die Corona-Pandemie hat diesen Trend verstärkt."
Wichtig ist für die Zuzügler eine funktionierende Infrastruktur, wozu vor allem schnelles Internet gehört. "Klar, Schule, Kindergarten waren Sachen, die mussten halt einfach so vorhanden sein. Selbst wenn das hier das schönste und günstigste Grundstück der Welt gewesen wäre, wäre das ein Ausschlusskriterium gewesen", wird ein Zugezogener zitiert.
Dörfliche Nähe will gelernt werden
Die Wissenschaftler untersuchten aber auch, welche Folgen die Zuzüge für Einheimische hat. "Eine funktionierende Dorfgemeinschaft ist kein Selbstläufer", sagt Catherina Hinz, Direktorin des Berlin-Instituts. "Neuzugezogene und Alteingesessene müssen das Zusammenleben aktiv gestalten." Wer selbst auf dem Land aufgewachsen sei und nur vorübergehend in der Stadt gelebt habe, wisse in der Regel, was ihn oder sie erwartet. Manche Zugezogene dagegen müssten das Zusammenleben auf dem Dorf erst lernen.
"Am Anfang war es schon nicht leicht: Jeder guckt so nach jedem. Das hat man ja in der Großstadt nicht. Da ist man eher anonym", zitiert die Studie eine Zugezogene. "Jeder grüße jeden auf der Straße", sagt eine andere Zugezogene. "Das ist ein schönes Gefühl, aber musste man auch erst lernen."
Demografische Wende trotzdem nicht in Sicht
Eine zentrale Rolle komme den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern zu, die in der Freude über die Zuzüge die Zukunft nicht vergessen dürften. Die demografische Entwicklung bleibt auch für Orte, in denen mehr Menschen zu- als abwandern ein Problem. Auch dort sterben immer noch mehr Menschen als geboren werden. Von den rund 3500 Gemeinden und Gemeindeverbänden, die deutschlandweit zwischen 2018 und 2020 im Schnitt Wanderungsgewinne verzeichnet haben, sind rund ein Drittel dennoch geschrumpft.
Altersgerechtes Bauen sei ein Muss, folgert die Studie. Es dürften nicht nur Eigenheim-Siedlungen am Ortsrand neu entstehen, wo die Zuzügler weitgehend unter sich bleiben. Der Bau von Mehrfamilienhäusern - auf dem Land keineswegs üblich - sei eine Alternative für ältere Menschen, in deren freiwerdende Häuser Familien einziehen könnten.